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Das leere Land

Das leere Land

Titel: Das leere Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kohl
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Söhne aus einer ersten Ehe. Ihre Mutter, meine Großmutter, hatte zwei Töchter aus einer ersten Ehe. Meine Oma und mein Opa hatten miteinander dann noch einmal vier Kinder, drei Söhne und sie, meine Mutter.
    Die waren bei der SS , sagte sie, aber nicht als Wächter in einem KZ . Die waren bei der Waffen- SS . Hast du geglaubt, dass dein Onkel so einer war? In einem KZ ?
    Natürlich nicht, sagte ich.
    Wahrscheinlich war der Brief von einem ihrer Freunde, sagte sie, man war ja im Dorf immer ganz eng beieinander, wie eine Familie, ich kann mir schon vorstellen, dass da einer von meinen Brüdern eine Freundin gehabt hat, und die hat einen Bruder gehabt, der bei der schwarzen SS war, weißt eh, die im Lager, und der hat der geschrieben, und die hat es ihm gezeigt, und irgendwie hat der dann den Brief nicht mehr zurückgegeben.
    So wird es sein, sagte ich.
    Das Einzige, das mir an diesem Tag so etwas wie Vergnügen bereitete, war die Lektüre in den Kopien von Kohls Reise von Linz nach Wien , im Speziellen seine Überleitung von der Irrenanstalt zur Linzer Jesuitenschule. Wenn eine Irrenanstalt den Zweck hat, formuliert er lapidar, Verrückte möglichst zur Vernunft zu bringen, so kann man dagegen eine Jesuitenschule in gewisser Beziehung eine Anstalt nennen, um Natürlichklugen künstlich den Kopf zu verdrehen. So was liest man gerne, als einstiger Knabeninternatszögling.

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    Ich würde gerne einen großen Klagegesang in den Aufsatz einbauen, sagte ich zum Sprecher meiner Auftraggeber, was wünschen Sie zu beklagen?, fragte er, die Flüchtlingsscharen, die sich drängten in Lauriacum, die Rettung erhofften vom Heiligen Mann und doch des nahenden Endes gewiss sein mussten, sagte ich. Die Elenden, die ihrer Verdrängung nichts entgegenzusetzen hatten, wie zu allen Zeiten. Die Anishinaabe will ich beklagen, die vom mächtigen Volk der Füchse aus ihren angestammten Jagdgründen und Fischfanggründen verdrängt wurden, und auch die Füchse will ich beklagen, die ja ihrerseits nur Verdrängte waren, die den Druck weiterreichten und weiterreichten an die benachbarten Stämme, bis sie am Ende selbst zerrieben wurden von den sich immer schneller verändernden Zuständen, wie die burmesischen Mönche, deren Verfolgung Abend für Abend aus dem Fernsehapparat flimmert. Und meinen eigenen gemieteten Fuchs will ich beklagen, VW Fox, der mit nicht einmal achtzehntausend Kilometern auf dem Tachometer die ersten Vorboten von Auflösung zeigte, das sagte ich aber nicht.
    Das Display am Fox spielte verrückt. Die Ziffern des Tageskilometerzählers begannen als Erstes zu flackern, dann auch die anderen Anzeigen, alles, was Ziffern darstellen sollte, verlor seine Form, zeitweise waren nur noch Achten zu sehen, dann lauter Achten, die aussahen, als hätte man die untere Hälfte wegradiert, dann flimmerte eine sich rasch verändernde Abfolge sinnloser Zeichen über den Bildschirm des Rundinstruments.
    Damit muss man rechnen bei einem in Brasilien endgefertigten Fahrzeug, sagte der Sprecher meiner Auftraggeber, hätten Sie doch ein paar Euro mehr investiert und einen Polo gemietet, das ist beinahe schon ein richtiges Auto.
    Alles verliert Verlässlichkeit, wenn man sich auf Symbole nicht verlassen kann, sagte ich. Wenn Gerätschaften zur Gewährleistung der Kommunikation zwischen dem Menschen und seinen Symbolsystemen den Dienst verweigern, ist alles vorbei. Wenn wir das, was in unseren Köpfen vorgeht, nicht verräumlichen können mittels Symbolen und nicht verzeitlichen können, indem wir die unterschiedlichen Symbolsysteme zusammenführen zu einer Art verflüssigter permanenter Verfügbarkeit, und darum handelt es sich bei den dem Funktionieren einer Tachometeranzeige zugrunde liegenden Digitaltechnologien ja, hört das, was in unseren Köpfen vorgeht, zu existieren auf. Tauschen Sie den Wagen halt aus, sagte er. Ich habe bereits beim Stadtbüro der Leihwagenfirma angerufen, sagte ich, aber bloß einen Anrufbeantworter erreicht, der die Öffnungszeiten auf Endlosband herunterleiert.
    Er fragte, was genau ich mit Klagegesang meinte.
    Ich konnte es nicht beantworten. Weil mir eine Klage im Kopf umging, die in die Gegenberichte gehörte und nicht in den Aufsatz. Fox, der Fuchs, ist das Symbol der Götter von Berg und Wald und wild wuchernder Vegetation, ein Trickster, ja, aber unter jenen Geschöpfen, die bereit waren, dem Menschen zu helfen, der hilfsbereiteste, bis die Christen kamen und ihn verdammten ins Dämonenreich, wahrscheinlich

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