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Das leere Land

Das leere Land

Titel: Das leere Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kohl
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gestaunt über den Eingangsbereich, der dem Comptoir eines Handelshauses glich, nur mit dem Unterschied, dass in jenem die Worte Wein- oder Kaffee- oder Tabak-Conto zu finden seien, in diesem aber auf jeder Tabelle, auf jedem Folioband mit großen Buchstaben gedruckt zu lesen stand: Conto der irren Knaben, Conto der wahnsinnigen Mädchen , Conto der wahnsinnigen Weiber, Conto der Findlinge. Und hatte sich pikiert gezeigt über die ziemlich sonderbare und veraltete Behandlung der Lustsiechen und ebensolche Erziehung der Findelkinder. Dagegen fand er die Modernität der Linzer Irrenanstaltsbetreiber in Sachen Wahnsinnsbekämpfung höchst lobenswert. Dieser Kampf wurde mit eiskaltem Wasser geführt, wohlwollend beschreibt der reisende Autor aus Bremen den Fall eines Mannes, der sich lange Zeit mit tiefer Melancholie, fixen Ideen allerlei Art und periodischem komplettem Irrsinn geplagt hatte und nach nur zehn Wochen Behandlung mit der Douche vollkommen geheilt und als ganz vernünftiger, mit sich und anderen zufriedener Mensch entlassen wurde.
    Es war kein Foto, sagte ich. Es war ein Brief.
    Ein Brief?
    War der Onkel in einem KZ ? , fragte ich nach einer langen Pause.
    Nein, nein, sagte sie, nicht KZ . In einem Lazarett war er. Nicht in einem KZ . In Detmold.
    Es steht aber in dem Brief, sagte ich. Wenn die nicht mehr arbeiten können, kommen sie in ein Krematorium! Sie zog die Augenbrauen zusammen, als ob sie angestrengt nachdenken müsste, und sagte nichts.
    Das Verrücktwerden ist wie eine Feuersbrunst, und das Verrücktsein ist einem ausgebrannten Gebäude ähnlich. Wie recht Kohl hat! Im Linzer Irrenhaus des einundzwanzigsten Jahrhunderts saß ich am Bett meiner Mutter und wünschte mir, ich könnte so distanziert und mit kalter Neugier die Dinge betrachten, wie Kohl es getan hatte im Linzer Irrenhaus des neunzehnten Jahrhunderts. Hinter eisenen Gittern sahen wir hier auch noch mehrere arme menschliche Wesen, schrieb er in der Reise von Linz nach Wien , deren Wahnsinn bereits dem Leben anderer ihrer Mitbürger verderblich geworden war. Es mochten auch solche darunter sein, deren mörderische Thaten noch Zweifel übrig ließen, ob sie auf dem Schafotte abzubüßen oder in einem solchen Krankenhause zu corrigieren wären. Und breitet dann ausführlich vor seinen Lesern den Fall eines angesehenen Linzer Bürgers aus, der seit zehn Jahren in der Anstalt saß, weil er wegen wachsender und schließlich ihn überwältigender Furcht vor Gespenstern und Dämonen ein Blutbad angerichtet hatte. An einem stürmischen Abend, wo alle Türen und Fensterrahmen grausig knarrten, plärrte eines der Kinder im Schlaf, die Mutter rief, das Hexenkind möge endlich schlafen. Dieses unvorsichtige Wort wirkte wie ein elektrischer Funke auf den in seinen Hirngespinsten verlorenen Mann, er holte ein Beil, schlug die Frau tot, dann die schreienden Kinder der Reihe nach in ihren Betten und auch noch die Dienstmagd. Als am nächsten Tag die Sonne schon hoch am Himmel stand, sahen ihn die Nachbarn mit den Leichnamen seiner Kinder in den Armen und von ihrem Blute triefend über die Straßen gehen. Er trage Hexenkinder weg, um sie ins Wasser zu werfen, schrie er dabei unentwegt. Dann wurde er ergriffen, schreibt Kohl, und als Wahnsinniger unter sein jetziges Gitter gebracht, wo wir ihn nun in einem Winkel im Stroh verkrochen vor uns liegen sahen.
    Jetzt weiß ich, was du meinst, sagte meine Mutter. Mein Gott, dieser dumme Brief. Der ist doch nicht von meinem Bruder. Ich weiß gar nicht mehr, wo er herkommt. Wahrscheinlich ein Freund von einem deiner Onkel. Die waren ja alle bei der Wehrmacht, die Buben aus der ersten Ehe meines Vaters, und meine Brüder auch, und bei der SS . Das war für die jungen Männer im Dorf ja was, wenn sie die SS genommen hat. Ich weiß es gar nicht mehr. Von meinen Halbbrüdern war glaube ich nur einer bei der SS . Die waren ja fast schon zu alt. Meine richtigen Brüder waren große, starke, junge Männer, solche haben sie gewollt.
    Der jüngste, dein liebster Bruder, war bei der SS .
    Die haben sie ja von der Berufsschule weg aussortiert, da war er siebzehn, älter war er noch nicht, und da haben sie ihn zur SS getan. So ist er nach Detmold gekommen.
    Es ist zu verwirrend. Sie hat es mir schon erzählt, und hat es mir sicher bereits auseinanderdividiert, wie sie es nennt, als ich Kind war, hat mir anhand der Fotos im Schuhkarton die komplizierten Familienverhältnisse erklärt. Ihr Vater, mein Großvater, hatte vier

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