Das leere Land
Orestes, Sekretär des Hunnen, später Heermeister der weströmischen Cäsaren, war der Vater des Romulus, dem sie den Bei- und Spottnamen Augustulus gaben, Kaiserlein, der später letzter römischer Kaiser werden sollte. Orestes schickte den letzten weströmischen Kaiser, den Konstantinopel als solchen anerkannte, Julius Nepos, in die Verbannung, nach Dalmatien, und machte seinen Sohn Romulus der Form nach zum Kaiser. De facto regierten Orestes und sein Bruder Paulus. Odoaker aber ließ Orestes in Placentia und Paulus in Ravenna ermorden und schickte Romulus Augustulus in die Verbannung, nach Castrum Lucullanum, das später, viel später, zur Herberge der Gebeine des Severinus werden sollte. Das alles geschah zwischen 453 und 476, in jenen Jahren, als die Not der Noricer drückender und drückender wurde, obwohl der Herr ihnen den Heiligen Mann gesandt hatte, wann auch immer dies geschehen sein mag.
Am Ende von Eugipps Geschichte waren sie alle untergegangen. Letzten Endes sei es die Malaria gewesen, die dem römischen Imperium den Todesstoß versetzt hat, sagen die aktuellsten Untergangsforscher, berufen sich auf den Molekularbiologen Robert Sallares, der in DNA -Proben aus Knochen römischer Menschen des fünften Jahrhunderts große Mengen der Wechselfieber-Erreger gefunden hat. Ist nicht wirklich originell oder aktuell, die Malaria-Theorie geistert durch die Jahrhunderte und taucht immer wieder einmal auf.
Es war Attila, sagen die Xenophoben und berufen sich auf Ammianus Marcellinus, den Historiker, der in seinen Res Gestae die Hunnen beschreibt als missgestaltete, schmutzige Wilde und als eine vom Berge niederdonnernde, stets mächtiger werdende und sich immer mehr beschleunigende Lawine. Attila warf laut dieser These den ersten Stein um, er löste den Dominoeffekt aus. Es war der moralische Verfall Roms, sagen die Moralisten. Es war der ökonomische Niedergang, sagen die Wirtschaftshistoriker. Es war der Zusammenbruch des römischen Postwesens, der das Weltreich in den Abgrund des Verschwindens geschleudert hat, sagen Medienhistoriker. Mir, dem einstigen katholischen Knabeninternatszögling, war immer schon die Deutung Voltaires am sympathischsten gewesen: Schuld am Untergang waren die Christen.
Immer die gleiche Geschichte. Einer erzählt die Dinge so, einer anders. Die Version dessen, der zu seiner Zeit das Sagen hat, gilt, zumindest für eine Weile. Einst Montesquieu, dann Voltaire, dann Gibbon, dann Spengler, dann Toynbee, dann Mommsen. Heute Malaria und Verfall des Postwesens. Deutungshoheit. Muss man nicht näher erläutern. Sieh nach, schrieb ich in mein Notizbuch, ob sich in Kohls Werken irgendwo ein Hinweis auf das Ende der Spätantike findet. Bring ein in den Aufsatz, schrieb ich, wie er es interpretiert. Dann strich ich die Eintragung durch. Die Masse von Kohls Schriften zu durchsuchen wegen einer möglicherweise nur einen halben Absatz langen Passage lohnte nicht.
Ich beschloss, es mir leicht zu machen und wie die vielen vor mir den Untergang Westroms nur andeutungsweise vorkommen zu lassen. Sobald mehr als Andeutungen und grobe Zusammenfassungen ins Spiel kommen, wird es unlesbar. Es ist eine chaotische, verwirrende Geschichte. Chaotisch und verwirrend, so waren wohl auch jene Zeiten, von denen die Rede sein soll. Es interessiert mich nicht wirklich. Eine Geschichte, die entlang von Herrscher-Jahreszahlen und Vertragsunterzeichnungsdaten und Schlachten erzählt wird, lässt mich gleichgültig. Ich entschied mich, all die Herrschernamen nicht in den Aufsatz zu nehmen.
Weil sie letzten Endes nur Popanze waren, Popanze mit prachtvollen Namen, aufgereiht und durch die Jahrhunderte memoriert in den Listen, Vortigern, Markian, Petronius Maximus, Palladius Avitus, Patricius, Majorian, Marcellus, Libius Severus, Aegidius, Anthemius, Glycerius, Julius Nepos und der unselige Romulus Augustulus. In Wahrheit waren sie nur Marionetten gewesen, tanzten ihre Pracht- und Machttänze an Schnüren, die ganz andere Mächte in Händen hielten. Wie es eineinhalb Jahrtausende später die vermeintlich Mächtigen tun, tanzen an den Fäden, die viel mächtigere Mächte ziehen. Und glauben dabei, sie seien es, die Dinge bewegten, wie die kleinen Kinder auf den Jahrmarktfahrgeschäften in den kleinen Autos sitzen, die auf Schienen im Kreis laufen, und an den Lenkrädern drehen und glauben, sie lenkten die Autos im Kreis, so sind sie, die heutigen Machthaber, schrieb ich in den Gegenbericht. Und löschte die Zeilen
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