Das leere Land
verändert, seltsam traurig sind alle, gleich weint jeder, Vater, Tante, Geschwister. Die Mutter darf Friedel nicht sehen, sie sei zu schwer verletzt, sagt man ihm.
Die Sache ist schwach konstruiert, natürlich weiß der Leser gleich, worauf es hinausläuft, als das Kind die Augen aufschlägt und niemand sich freut. Dörfler walzt die Erzählerei breit aus, aufs Umständlichste bereitet er die Schlusspointe vor. Am Ende ist das Kind so weit genesen, dass es wieder am Kirchgang teilnehmen kann, der Weg zum Gotteshaus führt über den Friedhof, und da erblickt Friedel die grüne Grasdecke über dem Grab der Familie aufgerissen, ein frischer Hügel ragt dunkel empor, ein braunes Holzkreuz steht da, von einem weißen Schleier umweht. Da weiß er es endlich.
Der religiös eifernde und frömmelnde und xenophobe Dörfler des Severinus-Romans ist mir lieber. Nur ein Satz im Mutter-Text machte mich unruhig, einer von den letzten Seiten des Buches, als der Bub so weit gesundet ist, dass er aufstehen und herumlaufen kann. Da wird er von dem Wunsch befallen, die Mutter zu besuchen, die er im Krankenhaus vermutet. So heiße Sehnsucht erfasst ihn, dass er sich vornimmt, sie heute anzuschauen, und wenn es noch so wehe tut. Das ist der Satz. Ich wusste, warum er mich unruhig machte. Ich hatte keine Wahl. Ich musste hin zu ihr, auch wenn es noch so wehe tut.
Ich legte das Dörfler-Buch zur Seite und drehte das Licht ab. Und schaltete gleich wieder ein. Ich hatte etwas vergessen. Ich versuchte die beiden Kreuze auf der Rad- und Wanderkarte bei den Orten Zwentendorf und Zeiselmauer und die dabeistehenden Datumsangaben wegzuwischen, mit Finger und Speichel, dann mit etwas Handwaschlotion und Klopapier aus dem Bad. Es ging nicht weg. Dauerhaft beschriftet. Schließlich übermalte ich die Tage bei den Datumsangaben mit dem Marker. Die Kreuze, die Monate und das Jahr ließ ich stehen. Morgen früh würde ich die Ziffern des morgigen Tages davor schreiben. Morgen Zeiselmauer und Zwentendorf. Noch nicht das Dorf mit dem Kriegerdenkmal.
14
In jenen Tagen, als der Heilige Mann angeblich erstmals seinen Fuß auf norischen Boden setzte, laut Eugippius aus dem Nichts kommend, laut Giese aus Ungarn, laut Dörfler aus Slowenien, laut Lotter gar nicht von irgendwoher kommend, da ohnehin bereits in Noricum anwesend gewesen, herrschten im Westteil des zweigeteilten Imperiums noch römische Männer als Kaiser, gerade noch.
Amtierender Regent war Flavius Placidus Valentinianus, Valentinian der Dritte, Sohn des Kurzzeit-Kaisers Contantius des Dritten und der Galla Placidia, ihrerseits Tochter des Kaisers Theodosius des Ersten, wenn Eugipps Behauptung stimmt, dass Severinus im Todesjahr des Attila nach Noricum gekommen war. Oder es saß Flavius Procopius Anthemius auf dem Kaiserthron, wenn Eugipps Behauptung stimmt, dass Severinus um 467 nach Noricum gekommen war, Anthemius, der Sohn des Heermeisters Procopius, aber er regierte nicht allein, in Gallien residierten die Usurpatoren Armandus und Romanus, die ihm die Herrscherwürde streitig machten.
Ich hatte den Wagen auf dem Kirchplatz von Zeiselmauer abgestellt, blieb drin sitzen, blätterte im Reclamheftchen mit der Vita Sancti Severini , verglich Eugipps Angaben mit den Daten der Wikipedia-Seiten Liste der römischen Kaiser der Antike und Untergang des römischen Reiches , die ich am Vortag ausgedruckt hatte, versuchte irgendwie eine zeitliche Abfolge auf die Reihe zu bringen. Was mir nicht gelang. Abgesehen von der Überzeugung, dass Eugipp ein Schwindler ist, war da nichts zu erfahren, dies war jedoch ohnehin die Grundvoraussetzung gewesen, mit der ich meine Arbeit begonnen hatte.
Eugipp ist ein Schwindler, und er verrät sich als solcher gleich auf der ersten Seite seines Buches. Im einleitenden Absatz behauptet er, dass Severinus in jener Zeit nach Asturis gekommen sei, als Attila gestorben war, also 453 nach der Geburt Christi. Die ersten vier Kapitel lassen sich bei gutem Willen und mit Ach und Krach noch in diesen Raster fügen. Doch dann geht seine Geschichte nahtlos, gleichsam von einem Tag auf den nächsten in der erzählten Zeit, derart weiter, dass sie historisch korrekt nicht vor 467 beginnen konnte, mit einem Spiel von ein paar Monaten auf oder ab.
So wird das nichts. Neuer Versuch. Edeka diente dem Attila. Flavius Orestes diente dem Attila. Edeka war der Vater des Skirenhäuptlings Odoaker, der später erster Nichtrömer auf dem Thron des römischen Kaisers werden sollte.
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