Das leere Land
wahrscheinlich, denn er muss irgendwo in der Gegend des Pfarrplatzes gewohnt haben. Den Gang von dem Wirtshause, in dem er logierte, zur Schiffslände beschreibt er als einen von wenigen Schritten, und die Lände war dort, wo heute das Museum Lentos steht.
Er hatte einen Freund vom Schiff abgeholt, und der war ganz begierig darauf, die weltberühmten schönen Linzerinnen zu sehen. Kohl schlug die flache Hand an die Stirn. Zwei Tage schon hatte er die Stadt durchforscht, aber das Wichtigste vernachlässigt: sich umzusehen nach den so hochgepriesenen Celebritäten dieser Stadt. Nun hielt er Ausschau nach den viel gerühmten Schönheiten, fand sie jedoch nicht wirklich. Begegnen einem denn die schönen Linzerinnen nicht auf allen Straßen? Sieht man denn die herrlich schlanken Mädchen nicht in allen Küchen? Präsentieren sich die reizenden Gesichter nicht in Hunderten Exemplaren auf den Märkten, in den Theatern, in den Kirchen? So schreibt er in seinem Reise-Bestseller. Und antwortet gleich: Er habe auf den Märkten bislang nur bäuerliche, krüppelige, zwergige Frauenspersonen gesehen. Zumindest räumt er ein, die schönen Linzerinnen über die Teppiche und Mönche und Irren und Bauern, über die er schreibt wie ein Besessener, ganz vergessen zu haben.
Hast du Musik auch drauf?, sagte Trixi.
Warte, sagte ich, drück den Knopf in der Mitte ein paar Sekunden lang, dann wechselt der MP3 -Player in einen anderen Ordner. Sie tat es. Angie, Angie, when will those clouds all disappear, jammerte Mick Jagger. Oh Gott, sagte sie und schaltete ab. Ich bin nun einmal alt, sagte ich. Und ich mag schon neuere Sachen auch.
Was denn?
Saul Williams zum Beispiel.
Sie zuckte die Schulter.
Wenn ich ehrlich bin, höre ich von dem nur Bloody Sunday , und das ist mittlerweile ein Oldie. Die Stones sind Scheiße, ich weiß. Die Stones haben alles verraten. Was kann ein armer Junge denn schon tun, als in einer Rockband zu singen und in den Straßen zu kämpfen. Wir haben es ihnen geglaubt. Und sie sind hingegangen und haben sich an VW und Microsoft verkauft. Nur Brian Jones nicht, Brian Jones, der ist in Ordnung. Aber der war ja gleich tot.
Sie grinste spöttisch. Und Angie , sagte ich, da lasse ich nichts drüber kommen.
Sie schwieg und schaltete den Player wieder ein. Ich hielt es für sinnlos, ihr zu erklären, warum ich Angie immer wieder hören musste. Wegen Heather. Im Speedy. Ein Flippercasino am Pfarrplatz. In einem Gründerzeithaus, das ganze Erdgeschoß war entkernt, sie hatten daraus zwei große Räume gemacht. In der einen Halle standen die Flipperautomaten, im anderen Raum Billardtische.
Heather mit dem weizenblonden Schoß und ihren Jeanskurven, sagte ich. Sie war diejenige in der Flipperhalle, die alle wollten. Aber keiner bekam sie. Trixi schwieg. Angie lief weiter.
Im Speedy mochte ich vor allem die Williams-Automaten. Ich kann es nicht erklären, sie sahen einfach besser aus als jene von Gottlieb oder Bally. Die Bilder waren aufregender, die Farben knalliger, die Geräusche satter. Und immer waren sie auf der Höhe der Zeit. Beatclub, das war mein Favorit. Auf der Lichttafel oben hantierten vier John- und Paul- und George- und Ringo-Karikaturen an Gitarren und Schlagzeug. Auf dem Spielfeld, zwischen den Bumpers und den Durchschuss-Röhren, tummelten sich Go-go-Girls in Miniröcken. Im Zentrum stand ein Drehziel, mit vier Kontakten, an jeder Seite einer. Sobald man einen getroffen hatte, drehte sich das Ding weiter. Wenn man alle vier abgeschossen hatte, ging ein gewaltiger Lichterzauber los, die Gitarren der Pilzköpfe begannen zu leuchten und versprühten Funken, die Go-go-Girls fanden sich auf einmal in einem Discokugel-Lichtermeer.
Das Tollste am Speedy waren die Gerüche. Am schönsten war es am Tag nach der Weihnachtsfeier. Der Besitzer, immer im grauen Arbeitsmantel, grau wie seine Haare, ein sehr alter Mann in meiner Erinnerung, dabei war er wahrscheinlich nicht älter als ich heute, hielt alle Jahre wieder kurz vor Weihnachten seine Gäste frei. In die Mitte des vorderen Raumes stellte er ein Fass Bier mit einem simplen Zapfhahn, und jeder, der hereinkam, bekam einen leeren Halbliter-Pappbecher in die Hand gedrückt und konnte sich am Fass bedienen, sooft er wollte. Wie sich da die Leute im Speedy drängten, und wie besoffen alle um ein Uhr mittags waren. Und wie das gerochen hat am nächsten Tag! Zigarettenrauch und verschüttetes Bier am dreckigen Boden, ein Hauch von Erbrochenem vom Klo her, und dazu
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