Das leichte Leben: Eine Geschichte aus der Vorstadt (German Edition)
meldete sich weit häufiger, als es an guten Tagen der Fall war. Zu beschließen, an einen bestimmten Menschen nicht zu denken, führte unweigerlich dazu, ihn ständig im Kopf zu haben. Eine weitere Mail traf ein – diesmal von Annette. Diese Mail bestand nur aus der Betreffzeile. Dort stand in Großbuchstaben, Punkt 14: LIEBES SCHNECKCHEN DARIA: ES EILT!!
Daria schaute auf ihre Armbanduhr: Kurz nach halb zehn. Sie nahm sich vor, bis elf durchzuarbeiten, ohne Regenfäden zu zählen, einen Espresso zu machen, die Sherryflasche zu öffnen und mit dem Zeigefinger über den Hals zu fahren oder den Anrufbeantworter ihrer Eltern, die gerade in Urlaub waren, abzuhören. Es waren nicht einmal neunzig Minuten, und trotzdem erschien ihr der Vorsatz wie eine Großtat. Sie wusste nicht, wie sie jemals ihr Abitur, geschweige denn ihr Examen an der Universität geschafft hatte. Konnte sie sich generell schlecht konzentrieren, oder konnte sie sich nur auf diese Aufgabe jetzt schlecht konzentrieren? Während des Studiums hatte sie sich ein System von Belohnungen geschaffen, angefangen von Gummibärchen für den Absatz einer Hausarbeit bis zu einem teuren Kleid für eine Prüfung. Rückblickend betrachtet, hatte das System sie vor der Frage geschützt, ob sie überhaupt Französisch und Kunstgeschichte studieren wollte. Nun schützte sie nichts mehr vor der Frage, ob sie vier Zeilen über einen Zeitungsständer aus Plexiglas wirklich übersetzen wollte oder nicht – zumal sie Frieders Idee mit dem extra Postsparbuch verworfen hatte und schon aus Prinzip ihre Entscheidung nicht rückgängig machen wollte.
9.52 Uhr. Siebzehn Minuten verdachter, verträumter Zeit. Spätestens um elf Uhr musste sie sich um Svenjas Mittagessen kümmern, auch wenn sie den Teig für die versprochene Pizza nicht mehr selbst machen konnte. Glücklicherweise waren Svenjas Geschmacksnerven in simpler und berechenbarer Weise binär gepolt: schmeckt oder schmeckt nicht. Daria würde eine bewährte Fertigpizza in den Ofen schieben, den Belag ergänzen, vielleicht aus Oliven oder Salamistreifen ein „S“ formen und zum Nachtisch ein Eis mit heißen Schattenmorellen anbieten. Um halb fünf hatte Svenja Handballtraining, und in dieser Zeit wollte Daria ihren Job abschließen. Ein Nachmittagssherry inklusive.
Frieder stellte das Fenster auf Kippstellung. Obwohl die Einrichtung nicht mehr neu war, roch es in seinem winzigen Büro jeden Montag penetrant nach Plastik und Gummi. Er schaltete den PC ein, ging in die Teeküche am Ende des Ganges, deponierte seine blaue Plastikbox (am Wochenende hatte Svenja ein Abziehbild – Obelix, der ein Wildschwein verspeist – auf den Deckel geklebt) im Kühlschrank und goss sich einen Kaffee ein. Die Kanne war noch fast voll. Frieder war einer der Ersten an diesem Morgen, er hatte Mark gestern noch anrufen wollen, um ihn an der Isar zu treffen. Aber sein Vater nahm den Hörer ab, und Frieder legte sofort auf, um Mark keine Probleme zu bereiten. Es war nach der Tagesschau, während Daria den „Tatort“ schaute. Sie nannte es „Spaziergänge ohne Hund“, wenn ihr Mann um diese Zeit noch einmal um den Block zog.
Frieder fühlte eine merkwürdige Unruhe, als er den Computer einschaltete. Irgendetwas musste er an diesem Montag erledigen. Er versuchte, sich zu erinnern, aber die bellende, angriffslustige Stimme von Marks Vater hallte plötzlich durch seinen Kopf und zerriss seine Konzentration. Mit dem Ellbogen schob er einige Publikationen auf die Seite, die am Freitag eingetroffen waren, darunter die Ergänzungslieferung einer Loseblattsammlung über die Fernsehausstrahlungen von Kriminalfilmen und -serien. Mühsam einzusortieren, weil viele Seiten auszutauschen waren. Die drei vorhergehenden Lieferungen stapelten sich noch auf dem quadratischen Beistelltisch; irgendwann würde wieder eine Praktikantin oder studentische Hilfskraft an seine Tür klopfen, der er den stupiden Job aufdrücken konnte.
Es begann zu regnen, sacht und lautlos. Wäre er um diese Zeit noch mit Mark an der Isar gewesen? Frieder tippte sein Passwort ein – der Computer stand genau vor seinem Fenster – und schaute zu, wie der Regen ein Strichmuster an sein Fenster zeichnete. Ein sanfter Glockenton holte seine Aufmerksamkeit auf den Bildschirm zurück: Der Netzwerkbetreuer – ein junger, hilfsbereiter Typ mit Wuschelkopf, der im Hochsommer gelegentlich im gerippten Unterhemd in seinem Büro saß – informierte, dass die Programme für
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