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Das leichte Leben: Eine Geschichte aus der Vorstadt (German Edition)

Das leichte Leben: Eine Geschichte aus der Vorstadt (German Edition)

Titel: Das leichte Leben: Eine Geschichte aus der Vorstadt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schmitter
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der rechten Hand, wie gewohnt, kamen ihm zwei Sanitäter entgegen, sie trugen eine Bahre, auf der, abgedeckt, seine Mutter lag – ihre Hausschuhe ragten unter dem Laken hervor, sie war sehr groß und hager, größer als ihr Mann. Sein Vater kam mit ihrem Hausarzt aus dem Wohnzimmer, er umarmte seinen Sohn und sagte: „Drei Tage kannst du zu Hause bleiben, dann gehst du wieder in die Schule. Drei Tage, hörst du, nicht länger.“ Dann ging er in den ersten Stock in sein Arbeitszimmer, verschloss die Tür von innen und kam erst am folgenden Morgen wieder heraus.
    Bernhard parkte den Wagen in der Kastellstraße. Das Grab befand sich direkt an der Außenmauer unweit des Haupteingangs, der Kies knirschte unter ihren Schuhen. Die Brüder stellten sich nebeneinander. Auf dem rechteckigen, glänzenden Marmorstein stand nichts als der Name ihrer Mutter und das Geburts- und Sterbedatum. Frieder schloss die Augen und überließ sich den Bildern in seinem Kopf. Je älter er wurde, desto weiter tasteten sich diese Bilder zurück. Seine Mutter wurde die Mutter seiner Kindheit, er sah sie auf der Terrasse sitzen und Äpfel schälen, er sah sie in der Küche, während er selbst seine Hausaufgaben an einem Ende des riesigen, rechteckigen Tisches machte, er sah sie abends an seinem Bett, nach der Gutenachtgeschichte wärmte sie stets seine Hände in ihren, eine Minute lang, und wenn sie die Tür hinter sich schloss, hatte er Angst, sie würde an diesem Abend noch fortreisen in ein weit entferntes Land, und er würde sie nie mehr wiedersehen. Warum, dachte er, während sie sich wieder Bernhards Auto näherten, erscheint mir die am weitesten entfernte Zeit, meine Kindheit, als eine Zeit der Gewissheit, sogar als einzige Gewissheit, die ich überhaupt spüre?
    Bernhard kurbelte das Seitenfenster herunter. Eine ruckende, quietschende Bewegung. Er hatte sich vor einem halben Jahr einen kleinen, gebrauchten Fiat gekauft, nach der Trennung von Elfie übte er das Leben mit kleinen Münzen.
    „Ist dir aufgefallen“, sagte er und stellte den Seitenspiegel ein, „dass Vater seit Jahren nicht mehr von Mutter redet? Ich kann mich nicht einmal mehr an das letzte Mal erinnern, als er ihren Namen aussprach.“
    Frieder fühlte die Wärme des Fahrtwindes. Es war heißer als gestern, ein schwüler, beinahe wolkenloser Tag. Er hatte ein kurzärmeliges Hemd angezogen, trotzdem schwitzte er bereits unter den Achseln.
    „Unser altes Durlach“, sagte Bernhard und schaltete zurück in den zweiten Gang, als wollte er die Fahrt künstlich verlängern. „Neulich habe ich gelesen, dass Durlach 1925 die höchste Arbeitslosenquote aller badischen Städte hatte. Und heute ist es ein Schmuckstück. Vater hatte einen goldenen Riecher, damals. Wenn er es überhaupt geahnt hat. Er hat vielleicht einfach nur das Nächstliegende getan: ein Haus gebaut für seine Familie. Für seine Generation war es so viel einfacher, das Richtige zu tun.“
    Der Wagen ihres Vaters, ein älterer, sehr gepflegter Mercedes-Diesel, stand in der offenen Garage. Obwohl nicht anzunehmen war, dass ihr Vater an diesem Tag noch einmal wegfahren würde, parkte Bernhard auf der Straße. Frieder griff seine Reisetasche vom Rücksitz, die Flasche Wein, das Standardmitbringsel, rollte drinnen von einer Seite auf die andere.
    Bernhard klingelte. Als niemand öffnete, fingerte er in seinen Hosentaschen und sagte: „Ich hab den Schlüssel vergessen. Gehen wir außen rum, Vater ist sicher im Garten.“
    Frieder lugte durch das Küchenfenster, aber es war niemand zu sehen. Sie gingen links am Haus vorbei, die Tür zum Geräteschuppen stand offen, Frieder sah die Aluminiumleiter, die Schere mit dem langen Teleskopstiel und die Bügelsäge nebeneinander an den Wandhaken. Auf einer umgedrehten Schubkarre lag eine bunte Schürze mit Bauchtasche. Bernhard deutete mit dem ausgestreckten Arm geradeaus zu den Obstbäumen, ging aber auf die Terrasse und setzte sich auf einen der Gartenstühle.
    Frieder sah seinen Vater, der sich, mit herunterhängendem Kopf, auf einen Spaten stützte. Er trug eine blaue Arbeitshose und ein weißes, kurzärmeliges T-Shirt. Sein Atem schien schwer zu gehen, der Brustkorb weitete sich mit jedem Zug, Frieder fühlte einen tiefen Stich, als er auf seinen Vater zuging.
    „Im Mai ist es fast schon zu spät zum Einpflanzen“, sagte sein Vater. Er hatte ein Loch ausgehoben, doppelt so groß wie der Wurzelballen der Jungpflanze, der noch in einem Jutesack steckte. Ein hellgrüner

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