Das letzte Hemd
die er bei einem Delikatessenhändler in Mitte gekauft hatte,
ein grandioses Stöffchen, wie er schon wusste. Dann holte er Vigoleis Thelen
aus der Tasche und schlug die erste Seite des Buches auf. Er las: »Ringsum
hatte sich die graue Schicht der Nacht gehoben, als wir das Achterdeck
betraten, unausgeschlafen, wie aus der Naht getrennt, leicht fröstelnd in der
Brise, die den Kimm reinfegte und uns bald schon das Schauspiel der näher
rückenden Steilküste Mallorcas bot.« Er klappte das Buch zu. Nicht schlecht für
einen ersten Satz.
Beim Stichwort Mallorca war ihm auch Kriminalhauptkommissar Becker
wieder eingefallen. Dem wollte er ja noch die dänische Adresse schicken, unter
der Vahrenhorst junior vielleicht zu finden war. Er durchsuchte seine Ringmappe
im DIN-A 5-Format, in der er alle möglichen losen
Zettel, Post-its, Visitenkarten und so weiter aufbewahrte, eben alles, was sich
so ansammelte und was man irgendwann brauchte. Wie jetzt die Adresse, die
Werner Winkens ihm aufgeschrieben hatte. So aus dem Kopf hätte er nicht mal
ungefähr sagen können, wie der Ort hieß, er wusste nur noch, dass es irgendwie
mit Fotoapparaten zu tun hatte. Leica? Gab’s die überhaupt noch? Wahrscheinlich
nicht. Rosenmair hielt Zettel in der Hand, von denen er nicht einmal mehr wusste,
dass er sie geschrieben hatte, obwohl die Handschrift auf den Zetteln dies
eindeutig bewies. Manchmal war das schon unheimlich.
Dann fiel es ihm wieder ein: Er hatte den Zettel mit einem Magneten
am Kühlschrank befestigt, was er oft mit Dingen tat, die ihm irgendwie im Weg
waren, aber noch keinen richtigen Platz gefunden hatten. Wie damals die »Kein
Herz für Walker«-Postkarten. Na ja, dann musste Becker warten, bis er wieder in
Waldniel war. Morgen würde er jedenfalls erst einmal neue Hemden kaufen, einer
der Gründe, und vielleicht sogar der wichtigste, warum er nach Berlin gekommen
war.
***
Kriminalhauptkommissar Becker hätte mit der Adresse momentan
auch gar nichts anfangen können. Er saß immer noch im Büro und versuchte
gerade, sich Klarheit zu verschaffen in gleich mehreren Fällen, an deren
Untersuchung er beteiligt war. »Grund reinbringen« hatte sein alter Chef das
immer genannt. Grund hatte er genug.
Die Explosion in der Lagerhalle stand zum Glück kurz davor, komplett
aufgeklärt zu werden. Man hatte nicht nur Rückstände des Brandbeschleunigers
und des feuergefährlichen Baumaterials gefunden, bei der Durchsuchung mehrerer
Lagerhallen, die Vahrenhorst am halben Niederrhein über Subunternehmen und
Scheinfirmen angemietet hatte, war man vielerorts auf das gleiche Material
gestoßen. Das Ergebnis einer Vergleichsprobe, die allerletzte Gewissheit
bringen sollte, stand noch aus, doch die Fahndung nach Vahrenhorst lief, das BKA hatte Interpol eingeschaltet. Becker musste
lächeln. Es hieß immer, man habe Interpol »eingeschaltet« – das klang fast so,
als sei die Behörde ein großes Suchgerät, an dem man nur einen großen Schalter
umlegen oder einen Knopf drücken musste. In gewisser Weise war das vielleicht
auch so.
Auch bei den Autobränden herrschte inzwischen mehr Klarheit. Man
hatte die verschiedenen Fabrikate analysieren und bestimmten Bezugsquellen
zuordnen können. Einige Anschläge gingen als Dummejungenstreiche durch, bei
denen jemand einfach mal ausprobieren wollte, ob es wirklich so leicht ist, mit
Grillanzündern ein Auto abzufackeln. Darüber hinaus gab es typische
Trittbrettfahrer, die zündelten, sobald in der Straße nebenan ein Auto brannte.
In einem Fall hatte es auch eine Selbstanzeige gegeben. Jede Form von
Unrechtsbewusstsein war einer älteren Dame abgegangen, die den Wagen ihres
Nachbarn in Brand gesteckt hatte, weil der »seit Jahr und Tag« seinen Hund auf
ihren Rasen kacken ließ. Die Anleitung zum Zündeln hatte sie aus dem Internet.
Becker fasste es manchmal nicht.
Der eigentliche Fang aber war ein Mann, der ganz allein zehn
Luxusmodelle auf dem Gewissen hatte – ertappt hatte man ihn am vergangenen
Abend auf frischer Tat bei Nummer elf. Er war auch gleich geständig gewesen,
das Motiv: Sozialneid. Er hatte einfach nicht verkraftet, dass andere Leute
sich größere und teurere Autos leisten konnten als er selbst. Also sollten sie
bluten respektive brennen.
Beckers Intuition hatte sich auch beim Brandanschlag auf
Strüssendorfs Audi bestätigt. Über die eher ungewöhnlichen Strohanzünder, die
Calzone ihnen überlassen hatte, war man relativ problemlos auf den Besitzer der
Villa
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