Das letzte Hemd
niemand mehr beim Abbiegen – eine
Gesellschaft voller Egoisten hatte es nicht nötig, die Richtung anzuzeigen, es
zählte nur der eigene Weg, und der war ja vorgezeichnet. Becker musste an eine
Geschichte aus Irland denken, die er mal gelesen hatte. Ein ortsansässiger
Autofahrer stand vor Gericht, weil er ohne zu blinken abgebogen war und dabei
einen anderen Verkehrsteilnehmer angefahren hatte. Seine Verteidigungsstrategie
war simpel: Er habe nicht geblinkt, weil doch sowieso jeder wisse, dass er dort
wohne.
Becker machte sich nicht viel aus Autos. Er fuhr einen fünfzehn
Jahre alten Audi 80 ohne Schnickschnack, der ihn überall hinbrachte und
den er sicher auch noch die nächsten fünfzehn Jahre fahren würde, wenn der
Wagen nicht auseinanderfiel. Gefühle verband er höchstens mit bestimmten
Situationen und Menschen. In seiner Werkstatt im Keller hing immer noch das Nummernschild
seines ersten eigenen Autos: RY-WA -45. Ein grauer
Opel war das gewesen, damals, als er mit seiner Frau die erste gemeinsame
Wohnung in der Nähe von Schloss Rheydt bezogen hatte. Die 45 war ihre
Hausnummer, die Buchstaben WA waren ihm
zufällig zugewiesen worden. Seine Frau hatte ihn immer damit geneckt, sie
stünden bestimmt für »Wachtmeister«.
Während er die Tür aufschloss, sah er, wie ein Auto vor Rosenmairs
Haus hielt. Das Auto kannte er gut und auch die Frau, die jetzt ausstieg. Es
war Frau Kolbich, Rosenmairs Putzfrau, die sonst eigentlich nur tagsüber kam.
Er winkte ihr zu, doch sie reagierte nicht. Entweder hatte sie ihn nicht
gesehen oder anderes im Kopf. Sie wirkte irgendwie besorgt, aber aus der
Entfernung konnte das täuschen.
Becker ging ins Haus und legte die Flugpläne zu den
Reisebüroprospekten auf den Flurtisch. Dann machte er sich auf die Suche nach
seinem neuen Mitbewohner, den er für die Stunden seiner Abwesenheit in den
Garten verbannt hatte.
***
Rosenmair öffnete die Tür und war überrascht, seine Putzfrau
davor stehen zu sehen. Frau Kolbich hatte natürlich einen Schlüssel zu seinem
Haus, aber sie klingelte immer, wenn sie morgens kam. Wenn er dann noch da war,
fragte er jedes Mal: »Haben Sie Ihren Schlüssel vergessen, Frau Kolbich?«, und
sie antwortete mit gespielter Entrüstung: »Ich werd doch nicht einfach so in
fremde Häuser gehen, Herr Rosenmair!«
Heute merkte er gleich, dass etwas nicht stimmte, denn sie reagierte
gar nicht auf seinen Spruch. Er bat sie ins Haus und folgte ihr in die Küche.
Sie nahm Platz und fummelte nervös an ihrer Handtasche herum. Trinken wollte
sie nichts. Rosenmair setzte sich zu ihr und hatte schlagartig die Befürchtung,
sie könnte ihre Stellung als Putzfrau kündigen wollen. Deshalb war er umso
erleichterter, als sie erklärte, sie könne die nächste Zeit nicht mehr so
regelmäßig zu ihm kommen, da ihr Mann nach einem Arbeitsunfall seit drei Tagen
im Krankenhaus liege. Rosenmair erkundigte sich natürlich nach dessen Befinden,
hörte aber nur mit halbem Ohr zu, als Frau Kolbich sich ein wenig in
Krankenhausgeschichten verlor. Wichtig war ihm vor allem, dass sie weiterhin
seinen Haushalt versorgen und seine Hemden bügeln würde.
Irgendwann piepte sein Mobiltelefon; er hatte eine SMS von Marlene bekommen. Und die nahm seine
Aufmerksamkeit so sehr in Beschlag, dass er gar nicht wirklich registrierte,
wie Frau Kolbich ihm die zukünftige Verteilung der Arbeit erklärte. Er hörte
ihr zwar zu, aber seine Gedanken waren ganz woanders. Fassungslos starrte er
auf Marlenes Text und versuchte, in den Worten einen für ihn nachvollziehbaren
Sinn zu erkennen. Frau Kolbich schnäuzte sich mehrfach und war ganz
offensichtlich ziemlich durch den Wind. Daher tätschelte Rosenmair kurz ihre
Hand und nickte nur zustimmend, als sie aufstand und sich mit den Worten »Dann
bleibt’s wie besprochen« verabschiedete. Die Genesungswünsche für ihren Mann
landeten in ihrem Rücken.
Rosenmair hielt immer noch das Telefon in der Hand und schaute auf
das Display. Da stand tatsächlich: »Max, du solltest bei der hochzeit eine rede
halten. Lg marlene«.
DREI
Einige Tage später brannten wieder Autos. Eigentlich
qualmten sie nur noch ein bisschen, als Becker von der Schlossstraße links zu
den Wohngebäuden gegenüber vom Rheydter Schloss einbog. Hier waren in den
letzten Jahren in einstigen Stallungen und Nebengebäuden sehr schicke und
mindestens ebenso teure Eigentumswohnungen entstanden. Vor dem Gebäudetrakt
befand sich ein großer Parkplatz. Und dort, neben all den
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