Das letzte Kind
sah sie dann an. »Bitte«, sagte er.
»Wenn Sie darauf bestehen.«
Drei Sekunden später hatte er das zerbrochene Fenster entdeckt. »Zurück in den Wagen«, sagte er und zog seine Dienstwaffe. »Steigen Sie ein und verriegeln Sie die Türen.«
Sie lief zur Haustür.
»Katherine!«
»Ich hab die Schlösser ausgewechselt. Verstehen Sie nicht? Das ist Johnny.«
Hunt holte sie auf der Verandatreppe ein und riss sie zurück. »Warten Sie«, sagte er. »Warten Sie einfach.« Dann rief er.
»Johnny!« Er packte den Türknauf, und die Tür ließ sich sofort öffnen. »Johnny. Hier ist Detective Hunt. Und deine Mutter.«
Nichts, Er hielt eine Hand hoch. »Bleiben Sie hier.«
Drinnen schaltete er das Licht ein. Glasscherben funkelten auf dem Teppich. Er warf einen Blick in die hinteren Zimmer und machte überall Licht. Als er durch den Flur zurückkam, fand er Katherine im Wohnzimmer. Er steckte die Pistole wieder ein.
»Niemand da. Alles leer.«
Sie saß sehr still auf dem Sofa.
»Fehlt irgendetwas?« Sie antwortete nicht, und Hunt kam näher. »Ist irgendwas gestohlen worden?«
Sie starrte ihn mit nassen, leeren Augen an.
»Ich werde im Garten nachsehen«, sagte Hunt. »Sie müssen sich umschauen und mir sagen, was Ihnen auffällt.«
»Das wird nichts nützen. Ich habe seit fast einem Jahr nichts mehr gesehen. Ich würde es nicht merken, wenn etwas fehlt.« Hunt verstand, was sie meinte, ging aber nicht darauf ein.
»Nehmen Sie sich Johnnys Zimmer vor. Fangen Sie damit an.«
»Also gut.« Sie trat in den Flur hinaus. Bei Johnny brannte das Licht. Sie hörte, wie Hunt das Haus verließ, und blieb in der Zimmertür stehen. Als sie hineinschaute, begriff sie, dass es ihr unvertraut war. Wie oft mochte sie in diesem Zimmer gewesen sein? Dreimal? Fünfmal? Und wie oft nüchtern? Nie, dachte sie. Das zurückliegende Jahr verschwamm im Nebel der Tage. Sie hatte gegessen. Sie hatte geschlafen. Ken Holloway war gekommen und gegangen.
Das Zimmer ihres Sohnes war ihr fremd.
Ihr Sohn, erkannte sie, war ihr fremd.
Sie warf einen Blick in den Wandschrank, aber sie wusste nicht, was dort hineingehörte. Das Gleiche galt für Schubladen und Regale. Sie konnte sich nicht erinnern, Kleider gekauft oder gewaschen zu haben. Das hatte Johnny selbst getan, begriff sie. Er hatte gekocht. Er hatte geputzt. Fassungslos presste sie die Hand auf den Mund.
Wo war ihr Sohn?
Sie sah den Koffer unter dem Bett. Er war alt und verschrammt und kam ihr irgendwie bekannt vor. Sie zog ihn heraus und hob ihn auf das Bett, öffnete ihn und erstarrte.
Alyssas Gesicht.
Johnny und ihr Mann.
Fotos bedeckten die Innenseite des Deckels. Eine Collage aus Sonnenschein und ihren Kindern. Das Leben — wie ein Versprechen. Ihre Augen brannten, ihre Kehle zog sich zusammen, und sie berührte eins der Fotos.
Alyssa.
Sie hatte ihrem Bruder den Arm um den Nacken gelegt, und sie grinsten wie zwei Kobolde.
Johnny.
Im Koffer lag ein großformatiges Foto ihres Mannes. Er trug ein blaues T-Shirt und einen Werkzeuggürtel. Er stand seitwärts zur Kamera, ein kantiger, starker Mann mit einem breiten Lächeln und glänzend schwarzem Haar. Eine Sonnenbrille verdeckte seine Augen, aber sie wusste, wie sie aussahen: blau, mit scharfem, festem Blick. Einen Moment lang war sie überwältigt von Reue über die Vorwürfe, mit denen sie ihn überhäuft, die schrecklichen Dinge, die sie zu ihm gesagt hatte. Doch dann flackerte der Zorn auf: Es war seine Schuld! Alyssa hätte niemals allein nach Hause gehen dürfen.
Aber der Zorn erstarb. »Wo bist du, Spencer?«
Darauf gab es keine Antwort. Er war fort.
Sie berührte die anderen Dinge im Koffer. Alyssas Sachen. Ihre Stofftiere. Ihr Tagebuch.
Wie kann das sein?
Sie hatte es doch verbrannt, das alles. Alles verbrannt, in drei furchtbaren Wochen eines drogenbefeuerten Wahnsinns. Sie nahm ein kleines Lamm aus dem Koffer, drückte es ans Gesicht und suchte nach einem Rest von Duft.
»Katherine.«
Hunts Stimme kam aus weiter Ferne. Sie ließ das Stofflamm sinken. Es war nass. »Gehen Sie weg.«
»Auf dem Grundstück ist alles in Ordnung.« Er war im Flur. Seine Schritte ließen die Holzdielen vibrieren, und die Vibrationen erreichten ihre Knie.
»Kommen Sie nicht hier herein.«
Er blieb in der Tür stehen.
»Kommen Sie nicht herein.« Sie spürte, dass tief in ihrem Innern etwas brach — eine Flut von Erinnerungen, so machtvoll und schneidend, dass sie jeden Damm einriss, den sie sich erbaut hatte. Ohne die
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