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Das letzte Kind

Das letzte Kind

Titel: Das letzte Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Hart
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Krawatte hing lose an seinem Hals. Katherine erstarrte, als sie das missvergnügte Gesicht sah, den verschwitzten Hemdkragen. Sie starrte auf die Haarbüschel an seinem Handrücken.
    »Was hast du vor?« Er fasste ihr Kinn mit einem Daumen und zwei harten Fingern. »Für wen hast du dich so aufgetakelt?« Sie konnte nicht antworten. Er quetschte ihr Kinn. »Ich frage, für wen du dich so aufgetakelt hast.«
    »Ich fahre ins Krankenhaus.« Ihre Stimme klang dünn.
    Ken sah auf die Uhr. »In einer Stunde ist die Besuchszeit zu Ende. Wie wär's, wenn du uns einen Drink machst und morgen hinfährst? Gleich morgen früh?«
    »Die werden sich fragen, warum ich nicht da bin.«
    »Wer wird sich fragen?«
    Sie schluckte. »Das Jugendamt.«
    »Bürokraten. Die können dir nichts tun.«
    Sie hob den Kopf. »Ich muss fahren.«
    »Mach mir was zu trinken.«
    »Es ist nichts da.«
    »Was?«
    »Es ist weg. Alles.« Sie wollte an ihm vorbeigehen. Er versperrte ihr den Weg mit einem massigen Arm. »Es ist spät.« Seine Hand strich über ihr Kreuz. »Ich kann nicht.«
    »Ich war die ganze Nacht im Gefängnis.« Er packte sie beim Arm. »Das war Johnnys Schuld, weißt du. Dein Sohn. Wenn er nicht einen Stein durch mein Fenster geworfen hätte ...«
    »Du weißt nicht, ob er es war.«
    »Hast du mir gerade widersprochen?«
    Schmerz loderte durch ihren Arm. Sie schaute auf seine Finger hinunter. »Nimm deine Hand da weg.«
    Er lachte und rückte ihr auf den Leib. Seine Brust drückte sich an sie, und er füllte die Tür aus und fing an, sie zurückzudrängen. »Lass mich gehen«, sagte sie. Aber er schob sie ins Haus, mit schmalen Lippen und unerbittlichen Augen. Plötzlich sah Katherine ihren Sohn vor sich: Das kleine Kinn in die reglose Hand gestützt, saß er auf der Verandatreppe, schaute den Hügel hinauf und wartete auf die Rückkehr seines Vaters. Sie hatte deshalb mit ihm geschimpft, aber jetzt spürte sie die Hoffnung, die ihn erfüllt haben musste. Sie hob den Blick von Kens Arm und schaute auch den Hügel hinauf, sie stellte sich vor, wie der Truck ihres Mannes bergauf und bergab herankam, aber da war nichts, und die Straße war still und schwarz. Ein raues Geräusch kam aus Kens Kehle, und als sie ihn ansah, zerschnitt ein Lächeln sein Gesicht. »Morgen früh«, sagte er. »Zu Johnny. Als Erstes.«
    Wieder schaute sie die Straße hinauf und sah das metallene Blitzen eines Wagens, der über die Kuppe kam. Sie hielt den Atem an, und dann erkannte sie den Wagen. »Mein Taxi«, sagte sie.
    Ken trat einen Schritt zurück, als das Taxi langsamer wurde. Katherine zog ihren Arm weg, aber sie spürte ihn immer noch, groß, breit und wütend. »Ich muss los«, sagte sie, schob sich an ihm vorbei und ging dem Taxi durch die Einfahrt entgegen.
    »Katherine.« Sein Lächeln war breit und wäre jedem anderen aufrichtig erschienen. »Wir reden morgen darüber.«
    Sie ließ sich ins Taxi fallen und fühlte die Lehne im Rücken. Es roch nach Zigarettenrauch, ungewaschenen Kleidern und Haarwasser. Der Fahrer hatte faltige Haut und eine Narbe am Hals, deren Farbe die einer feuchten Perle war. »Wohin?«
    Katherine wandte den Blick nicht von Ken Holloway.
    »Ma'am?«
    Ken lächelte immer noch.
    »Zum Krankenhaus.«
    Der Fahrer beobachtete sie im Rückspiegel. Sie fühlte seinen Blick und erwiderte ihn. »Geht's Ihnen nicht gut?«, fragte er.
    Sie schwitzte und zitterte. »Es wird bald besser«, sagte sie.
    Aber sie irrte sich.

VIERUNDZWANZIG
    J ohnny stand mit dem Rücken zum Wald vor einer schmalen Lichtung. Es war nur eine Schramme in einem Meer von Bäumen, ein kleiner Fehler, aber da, wo Johnny stand, gab es nichts anderes — nur das wogende grüne Dach, das sich in einer lautlosen Brise wiegte.
    Seine Schwester stand mitten auf der Lichtung und schaute ihn an. Sie hob die Hand, und Johnny merkte, dass er ging. Das Gras reichte ihm bis zu den Knöcheln, dann bis zu den Knien. Alyssa sah aus, wie er sie das letzte Mal gesehen hatte: hellgelbe Shorts, ein weißes Top. Ihr Haar war schwarz wie Tinte, ihre Haut sehr braun. Sie hielt eine Hand hinter dem Rücken und hatte den Kopf schräg gelegt, sodass schwarze Strähnen über ihre Augen fielen. Sie stand auf einem rostigen Blech im platt gedrückten Gras. Johnny roch den Duft der zerdrückten Halme, die Reife des Sommers.
    Die Schlange ringelte sich zu ihren Füßen. Es war die Mokassinschlange, die er getötet hatte. Anderthalb Meter lang, braun und golden und stumm. Ihre Zunge kostete die

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