Das letzte Kind
spaziert.«
»Sind sie verheiratet?«
»Nein, aber Levi glaubt, sie sind es.«
»Warum?«
Tremont lächelte. »Weil sie miteinander geschlafen haben und weil ...« Er sprach nicht zu Ende. »Oh, Scheiße.«
»Was ist?«
»Wer kümmert sich denn um ihr Kind?«
Hunt überlief es kalt. »Was für ein Kind?«
»Ein kleines Mädchen. Zwei Jahre alt.«
Hunt griff nach seinem Handy.
»Hat ein Lächeln, bei dem Ihnen das Herz schmilzt.«
SECHSUNDZWANZIG
A m Abend um neun musste Katherine Johnnys Krankenzimmer verlassen. Teils fiel es ihr schwer, doch andererseits war es ein Segen. Ken Holloway hatte viermal im Zimmer angerufen und sich geweigert aufzulegen, bis sie sich bereit erklären würde, sich mit ihm zu treffen. Er war hartnäckig, und sie war stark gewesen und hatte sich jedes Mal geweigert und erklärt, dass ihr Sohn jetzt endgültig an erster Stelle stehen müsse. Schließlich war sie gezwungen gewesen, einfach aufzulegen. Zweimal. Danach zuckte sie jedes Mal angstvoll zusammen, wenn die Tür aufging oder ein plötzliches Geräusch durch den Korridor hallte.
Und dann war da diese Trockenheit. Sie versuchte stark zu sein, aber sie spürte sie in jeder Faser ihres Körpers.
Sie brauchte etwas.
Sie blieb noch einen letzten Augenblick am Bett. Ihr Sohn schlief, und sein Gesicht sah — wie immer — aus wie das seiner Schwester. Der gleiche Mund, die gleichen Konturen. Sie drückte ihm einen Kuss auf den Kopf und ging dann zu ihrem Taxi am Hinterausgang des Krankenhauses.
Auf der Heimfahrt ballte sie die Fäuste, dass die Knöchel weiß wurden. Sie kamen an drei Bier- und Weinläden und an zwei Bars vorbei. Katherine biss die Zähne zusammen und bohrte die Fingernägel in die Handflächen. Als die Lichter der Innenstadt hinter ihr zurückblieben, atmete sie leichter. Alles war in Ordnung mit ihr. Sie wiederholte es.
Alles in Ordnung mit mir.
Das Taxi fuhr den letzten Berg hinunter, und sie sah das Haus schon, als sie noch eine halbe Meile weit entfernt war. Licht fiel aus jedem Fenster und malte ein Hummelmuster aus Gelb und Schwarz auf das Grundstück.
Sie hatte das Licht nicht eingeschaltet.
Sie stieg aus dem Taxi, ging auf die Tür zu und zögerte. Ihre Hand suchte das Handy in ihrer Tasche. Vor der Veranda überlegte sie es sich anders und trat zurück. Alles war so still: der Garten, der Wald, die Straße.
Dann sah sie den Wagen. Er parkte fünfzig Meter weiter unten an der Straße, dicht am Rand. Es war zu dunkel, um die Farbe zu erkennen. Schwarz vielleicht. Ein großer Wagen, den sie nicht kannte. Sie starrte ihn an, machte einen Schritt darauf zu und hörte plötzlich, dass der Motor lief.
Sie ging noch zwei Schritte weiter, und die Scheinwerfer strahlten auf. Mit quietschenden Reifen fuhr der Wagen an, wendete in einem so engen Bogen, dass Kies und Erde aufspritzten, und schoss dann die Straße hinauf. Die Heckleuchten wurden kleiner und verschwanden, als die Straße bergab führte.
Katherine bemühte sich, langsamer zu atmen. Das war nur ein Auto gewesen. Ein Nachbar. Sie drehte sich zum Haus um und sah, dass die Tür einen Spalt breit offen stand. Ein langer gelber Streifen, der breiter wurde, als sie die Tür aufdrückte.
Drinnen lief Musik.
»Have yourself a merry little Christmas ...«
Es war Ende Mai.
Sie schaltete die Musik ab und ging durch den Flur. Das Haus fühlte sich leer an, aber die Musik machte ihr Gänsehaut. Es war nur ein Stück gewesen, auf »Wiederholung« eingestellt. Als Erstes schaute sie in die Schlafzimmer, doch da war nichts Ungewöhnliches. Auch im Bad war alles in Ordnung.
Die Tabletten fand sie in der Küche.
Die orangegelbe Flasche stand genau in der Mitte der abgestoßenen Resopaltischplatte, hell und glänzend, und das Etikett strahlend weiß. Katherine starrte sie an und spürte, wie ihre Zunge anschwoll. Es rasselte, als sie das Fläschchen in die Hand nahm, um das Etikett zu lesen. Ihr Name stand darauf, und das Datum war das von heute.
Fünfundsiebzig Tabletten.
Oxycontin.
Wütend riss sie die Tür auf und schleuderte das Fläschchen in den Garten. Der Türknauf drehte sich unter ihren Fingern, als sie die Tür wieder zuschlug. Sie kontrollierte jedes Fenster, jede Tür, und dann setzte sie sich auf das Sofa vor dem vorderen Fenster. Mit geradem Rücken saß sie da und spürte das Fläschchen da draußen hinter sich in der Dunkelheit. Sie knirschte mit den Zähnen und verfluchte Ken Holloways Namen.
So leicht würde es nicht werden.
Johnny
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