Das letzte Koenigreich
der einen Grenzstein versetzt hatte und dafür verurteilt worden war. Wie die Tiere trug auch er einen Strick um den Hals.
Ich kannte den Hengst. Es war Ragnars edelstes Pferd, ein Rappe, der Flammentreter genannt und von Ragnar besonders geschätzt wurde. In dieser Nacht aber sollte Flammentreter wie all die anderen Tiere Odin geopfert werden. Ragnar vollzog das Ritual selbst. Er entblößte seinen vernarbten Oberkörper und tötete mit seiner Streitaxt ein Tier nach dem anderen. Flammentreter war als letztes Tier dem Tod bestimmt. Seine großen Augen schimmerten weiß, als er gezwungen wurde, über die Rampe in die Grube zu gehen. Nervös durch den Blutgeruch ringsum, scheute er und kämpfte. Mit Tränen in den Augen ging Ragnar auf ihn zu, küsste ihn auf die Nüstern und tötete den Hengst mit einem einzigen Streich, gezielt zwischen die Augen. Das Pferd fiel, schlug mit den Läufen aus und war einen Herzschlag später tot. Der Engländer starb zum Schluss. Sein Tod war nicht so quälend wie der des Pferdes. Und dann stand Ragnar zwischen bluttriefenden Kadavern, hob die verschmierte Axt gen Himmel und rief: «Odin!»
«Odin!», antworteten die Männer und richteten ihre Schwerter, Lanzen oder Äxte auf die dampfende Grube. «Odin!», brüllten sie wieder, und ich sah Weland, die Schlange, von der anderen Seite des Schlachtloches in mein Gesicht starren.
Die Kadaver wurden aus der Grube geholt und an die Aste von Bäumen gehängt. Ihr Blut war den Wesen des Erdreichs geopfert worden, jetzt sollte ihr Fleisch den himmlischen Göttern dargeboten werden. Anschließend schütteten wir die Grube zu und tanzten darauf herum, um die Erde festzutreten. Dann wurden Ale und Met in Schläuchen ausgeschenkt, und wir betranken uns unter den aufgehängten Opfergaben. Odin, der schreckliche Gott, war angerufen worden, weil Ragnar und seine Mannen in den Krieg ziehen wollten.
Ich dachte an die Klingen, die auf die blutige Grube gerichtet worden waren, und an den Gott, der von seiner Totenhalle aus diese Männer segnete, und ich wusste, dass ganz England fallen würde, wenn es keinen Zauber fände, der ebenso mächtig wäre wie die Hexerei dieser starken Männer. Ich war erst zehn Jahre alt, doch in dieser Nacht wusste ich, was aus mir werden würde.
Ich würde mich den Sceadugengan anschließen, ich würde ein Schattenwandler werden.
ZWEI
Frühjahr 868. Ich war elf Jahre alt, als die Windviper zu Wasser gelassen wurde.
Dieses herrliche Schiff gehörte Ragnar, sein Rumpf war aus Eiche, ein Schlangenkopf diente als Bugspitze, der Kopf eines Adlers thronte über dem Heck, und darüber schwebte eine dreieckige Windfahne aus Bronze mit einem aufgemalten schwarzen Raben. Die Windfahne steckte auf dem Mast, der jetzt abgesenkt war und auf zwei Holzstützen ruhte, sodass er wie ein Sparren durch die Mitte des langen Schiffes lief. Ragnars Männer legten sich in die Riemen, ihre bemalten Schilde hingen an den äußeren Bordwänden. Beim Rudern schmetterten sie das Lied von Thor, der nach der Furcht erregenden Midgardschlange fischte, die, auf den Wurzeln der Welt zusammengerollt, den Ochsenkopf-Köder schluckte, dann aber dem mächtigen Gott entkommen konnte, weil der Riese Ymir, aus Angst vor der schrecklichen Schlange, die Angelschnur durchtrennte. Es ist eine schöne Geschichte, und der Rhythmus trug uns über die Trente, die ein Nebenfluss des Humber ist und im tiefsten Inneren Merciens entspringt. Wir fuhren flussaufwärts Richtung Süden. Die Strömung war kein Problem für die kräftigen Ruderer, die Sonne schien warm, und die Ufer säumte ein dichter Blumenteppich. Einige Berittene begleiteten uns am östlichen Flussufer, und hinter uns folgte eine Flotte Drachenschiffe. Dies war die Armee von Ivar dem Knochenlosen und Ubba dem Schrecklichen. Ein Heer Nordmänner, dänische Schwertkämpfer, zog in den Krieg.
Der ganze Osten Northumbriens war schon in ihrer Hand; auch der Westen hatte sich zähneknirschend gebeugt, und jetzt wollten sie Mercien einnehmen, das Herzland des englischen Königreichs. Es erstreckte sich nach Süden bis zum Fluss Thames, der an die Länder von Wessex grenzte, nach Westen bis zu den Bergen der walisischen Stämme und nach Osten bis zu den Feldern und Sümpfen von Ostanglien. Nicht so begütert wie Wessex, war Mercien doch sehr viel reicher als Northumbrien, und der Fluss Trente führte in das Herz dieses Königreichs, auf das die Windviper als Spitze des dänischen Speers nun zielte.
Der Fluss
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