Das letzte Koenigreich
Weland nachgeschickt?», fragte ich, in meinem Stolz verletzt.
«Weil Ubba es wollte», antwortete er.
«Traut er mir nicht?»
«Er traut niemandem außer Storri», erwiderte er. «Aber ich vertraue dir, Uhtred.»
Über die Köpfe am Stadttor machten sich die Vögel her, bis nur noch Schädel und Haarbüschel übrig waren, die im Wind flatterten. Die Mercier und Westsachsen griffen immer noch nicht an. Die Sonne schien, und der Fluss strömte in sanften Wellen an der Stadt vorbei, wo auf seinem Ufer unsere Schiffe lagen.
Obwohl blind, hielt sich Ravn gern am Wall auf und ließ mich schildern, was es zu sehen gab. Nichts Neues, sagte ich jedes Mal. Der Feind verschanzte sich nach wie vor hinter gefällten Bäumen, über den fernen Hügeln trieben dunkle Wolken, ein Falke jagte, der Wind spielte im Gras, Schwalben stiegen in den Himmel, und alles war wie immer.
«Was hat es mit den Runenstäben auf sich?», wollte ich wissen.
«Die Stäbe?» Er lachte.
«Kann man ihnen wirklich glauben?»
Er schien nachzudenken. «Wenn du sie richtig zu deuten verstehst, ja. Auch ich war ein großer Runenleser, als ich mein Augenlicht noch hatte.»
«Also kann man ihnen glauben!», sagte ich aufgeregt.
Ravn deutete auf die Landschaft, die er nicht sehen konnte. «Da draußen gibt es zahllose Hinweise auf die Götter. Wenn du sie erkennst, weißt du die Wünsche der Götter. Das teilen dir nicht zuletzt auch die Runenstäbe mit. Allerdings ist mir eines aufgefallen ...» Er unterbrach sich, und ich musste ihn drängen fortzufahren, was ihm anscheinend nicht leicht fiel, denn er seufzte. «Am besten deuten diese Zeichen besonders kluge Männer», fuhr er fort. «Storri ist klug, und auch ich bin nicht gerade dumm.»
Ich verstand nicht recht, was er damit sagen wollte. «Aber Storri hat doch immer Recht, nicht wahr?»
«Storri ist vorsichtig. Er geht kein Risiko ein, und das gefällt Ubba, obwohl er die Hintergründe nicht versteht.»
«Aber die Stäbe tragen die Botschaften der Götter, oder?»
«Auch der Wind trägt die Botschaften der Götter», antwortete Ravn, «und der Flug der Vögel, der Fall einer Feder, ein Fischschwarm, Wolkenformen oder der Schrei einer Füchsin. All dies sind Botschaften, doch eigentlich, Uhtred, sprechen die Götter nur an einer einzigen Stelle zu uns.» Er tippte mir an die Stirn. «Da drin.»
Ich verstand immer noch nicht und war irgendwie enttäuscht. «Könnte auch ich die Stäbe deuten?»
«Natürlich», antwortete er. «Aber es wäre vernünftig, damit zu warten, bis du älter geworden bist. Wie alt bist du jetzt?»
«Elf.»
«Dann solltest du noch warten, bis du alt genug bist, um zu heiraten, also vier oder fünf Jahre.»
Der Vorschlag schmeckte mir nicht, weil ich damals nicht vorhatte, zu heiraten. Mädchen interessierten mich nicht, auch wenn sich das bald ändern sollte.
«Thyra vielleicht?», regte Ravn an.
«Thyra!» Ragnars Tochter war meine Spielgefährtin und keine Frau. Schon die Vorstellung brachte mich zum Lachen.
Ravn lächelte über meine Reaktion. «Uhtred, warum haben wir dich wohl am Leben gelassen?» «Ich weiß nicht.»
«Als Ragnar dich gefangen nahm», sagte er, «dachte er, dich gegen eine hohe Geldsumme auslösen zu können. Doch dann entschied er, dich zu behalten. Ich hielt das für einen Fehler, aber er hat das Richtige getan.»
«Das freut mich», erwiderte ich aufrichtig.
«Wir brauchen die Engländer», fuhr Ravn fort. «Wir sind nur wenige, die Engländer dagegen viele. Wir können ihnen zwar ihr Land abnehmen, können es aber ohne ihre Hilfe nicht halten. Man kann nicht auf Dauer an einem Ort leben, der belagert wird. Wir brauchen Frieden, um Getreide anzubauen und Rinder zu züchten. Und wir brauchen dich. Wenn die Engländer sehen, dass Graf Uhtred auf unserer Seite ist, werden sie uns nicht bekämpfen. Und du musst ein dänisches Mädchen heiraten. Eure Kinder werden beides sein, dänisch und englisch, und es wird keinen Unterschied mehr machen.» Er dachte kurz nach und lachte dann leise. «Aber pass auf, Uhtred, dass keine Christen aus ihnen werden.»
«Sie werden Odin anbeten», sagte ich und meinte es auch so.
«Das Christentum ist eine allzu sanfte Religion», urteilte Ravn streng, «ein Frauenglaube. Statt Männer aufzurichten, macht sie Würmer aus ihnen ... Ich höre Vögel.»
«Zwei Raben», sagte ich. «Sie fliegen nordwärts.»
«Das ist wirklich mal eine Botschaft», sagte er erfreut. «Hugin und Munin sind auf dem Weg zu
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