Das letzte Koenigreich
wähnten uns schon am Ziel. Rorik war wieder einmal krank und in Readingum geblieben, ebenso wie viele Geiseln, darunter die mercischen Zwillinge Ceolberht und Ceolnoth, über die eine kleine Truppe wachte, die auch unsere kostbaren Schiffe beschützen sollte.
Alle anderen marschierten zu Fuß oder ritten. Ich hielt mich in der Gruppe der älteren Jungen auf, die das Heer begleitete. Unser Kampfauftrag bestand darin, in der Schlacht zerschlagene Schilde gegen neue auszutauschen. Immer wieder standen unversehens Kämpfer in den vorderen Reihen, die anstelle eines Schildes nur noch den eisernen Buckel und ein paar herabhängende Holzsplitter in der Hand hielten. Auch Brida zog in unserem Tross mit, sie saß hinter Ravn auf dem Pferd, und ich lief häufig neben ihnen her. Ravn formulierte an den ersten Versen eines Gedichts mit dem Titel «Der Fall der Westsachsen», worin er die Namen unserer Helden anführte und beschrieb, wie sie sich zum Kampf rüsteten. Irgendwann schloss einer dieser Helden, der düstere Graf Guthrum, auf seinem Pferd reitend, zu uns auf. «Ihr seht gut aus», sagte er zu Ravn und schlug einen Tonfall an, der eine ungünstige Wendung verhieß.
«Ihr seht, was ich nicht sehe», antwortete Ravn. Er liebte es, mit Worten zu spielen.
Guthrum, in einen schwarzen Umhang gehüllt, schaute über das Flusstal, das auch jetzt, obwohl es Winter war, in einem satten Grün leuchtete. «Wer wird wohl der nächste König von Wessex sein?», fragte er.
«Halfdan vielleicht?», antwortete Ravn verschmitzt.
«Ein so großes Königreich würde besser von einem älteren Mann regiert», knurrte Guthrum. Und mit säuerlichem Blick auf mich fragte er: «Wer ist das?»
«Ihr vergesst, dass ich blind bin», sagte Ravn, «also, wer ist wer? Oder fragt Ihr, welcher ältere Mann König werden sollte? Ich vielleicht?»
«Nein, nein! Der Junge, der Euer Pferd führt. Wer ist das?»
«Graf Uhtred», antwortete Ravn. «Er weiß, dass die Dichter so bedeutend sind, dass ihre Pferde von echten Grafen geführt werden müssen.»
«Uhtred? Ein Sachse?»
«Ich bin Däne», entgegnete ich.
«Ein Däne, der in Readingum sein Schwert mit sächsischem Blut benetzt hat, Guthrum», fügte Ravn hinzu, um Guthrum daran zu erinnern, dass seine schwarz gekleideten Männer nicht vor dem Wall gekämpft hatten.
«Und wer ist das Mädchen?»
«Brida», antwortete Ravn. «Sie wird eines Tages ein Skalde und eine Zauberin sein.»
Guthrum wusste darauf nichts zu sagen. Er starrte finster auf die Mähne seines Pferdes und kam dann wieder auf seine erste Frage. «Will Ragnar König werden?»
«Ragnar will kämpfen», sagte Ravn. «Mein Sohn hat keine hohen Ansprüche. Ihm reicht es, zu scherzen, Rätsel zu lösen, sich zu betrinken, Armreife zu verleihen, mit Frauen zu schlafen, gut zu essen und dereinst bei Odin zu sitzen.»
«Wessex braucht eine starke Führung», meinte Guthrum, «einen Mann, der zu regieren versteht.»
«Klingt nach einem Ehegemahl», erwiderte Ravn.
«Wir nehmen ihre Festungen ein, kümmern uns aber kaum um den Rest des Landes», bemängelte Guthrum. «Selbst Northumbrien ist nur zur Hälfte besetzt, und aus Mercien kommen Wessex Männer zu Hilfe, die eigentlich auf unserer Seite stehen müssten. Wir siegen zwar in der Schlacht, führen unseren Kampf aber nicht zu Ende.»
«Und wie sollten wir das Eurer Meinung nach tun?», fragte Ravn.
«Mit mehr Männern, mehr Schiffen und mehr Toten.» «Mehr Toten?»
«Alle umbringen», sagte Guthrum mit scharfer Stimme. «Samt und sonders. Keiner soll verschont bleiben.»
«Nicht einmal die Frauen?», fragte Ravn.
«Allenfalls ein paar von den jüngeren.» Guthrum warf mir einen missbilligenden Blick zu. «Was gaffst du so, Junge?»
«Ich betrachte Euren Knochen, Herr», sagte ich und deutete auf seinen sonderbaren Haarschmuck.
Er griff mit der Hand danach. «Das ist eine Rippe meiner Mutter», erklärte er. «Sie war eine gute Frau, eine wundervolle Frau, und sie begleitet mich, wohin ich auch gehe. Auf sie, Ravn, solltet Ihr einmal ein Lied dichten. Ihr kanntet sie doch, nicht wahr?»
«O ja», antwortete Ravn. «Ich kannte sie sehr gut und furchte deshalb, dass meine Dichtkunst nicht ausreicht, um diese großartige Frau angemessen würdigen zu können.»
Sein Spott erreichte Guthrum den Unglücklichen nicht. «Ihr könntet es versuchen», sagte er. «Für ein gelungenes Lied würde ich Euch eine Menge Gold geben.»
Der ist verrückt, dachte ich, verrückt wie
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