Das letzte Mahl: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
nicht der einzige aus ihrem alten Kreis, der nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte. Genaugenommen hatte er Hanne gar nicht erwähnt, die alte Clique redete schon lange nicht mehr über ihr Verschwinden. Karen hatte keine Ahnung, daß Hanne wieder in Norwegen war.
»Sie hat mir dasselbe Mantra serviert wie alle anderen Zeugen in diesem Fall. Schweigepflicht.«
Er verzog angeekelt den Mund. Sein Schnurrbart war in den letzten Tagen deutlicher geworden; Hanne fiel auf, daß er jetzt einen grauen Streifen unter der Nase hatte.
»Alles in allem können wir also sagen, daß Vilde Veierland Ziegler den ganzen Kram erbt. Die unversteuerte Erbsumme, wie Anwältin Borg das nennt, wird ziemlich groß ausfallen.«
»Gut, gut. Das wäre also die Verdächtige Nummer eins.« Severin Heger malte hinter Vildes Namen ein Ausrufezeichen. »Motiv? Ja. Alibi?«
»Sie sagt, sie war mit einer Freundin in der Stadt unterwegs«, teilte Karianne mit. »Und das hat sich bestätigt. Sie sind kurz vor neun im Smuget aufgetaucht und bis gegen Mitternacht dort geblieben. Danach waren sie noch im Tostrupkjeller. Die Freundin ist um zehn vor eins gegangen, da war Vilde noch in dem Lokal.«
»Schön«, sagte Severin wenig begeistert. »Sie hat also ein Alibi. Und haben wir das wirklich genau überprüft?«
»Was heißt schon genau?« erwiderte Karianne und kritzelte wütend auf einem leeren Blatt herum. »Ich habe mit der Freundin gesprochen, und sie hat alles bestätigt.«
»Bestätigt«, brüllte Billy T. »Was zum Teufel bedeutet das? Hast du diese Freundin, diese … angebliche Freundin, zur Vernehmung bestellt?«
»Ich habe mit ihr telefoniert.«
»Telefoniert?«
Karianne warf ihren Kugelschreiber auf den Tisch und brüllte zurück: »Jetzt mach aber mal einen Punkt, Billy T.! Hör auf, mit mir zu reden, als wäre ich mittelmäßiger Dreck, den du mit dir rumschleppen mußt! Es wäre vielleicht für uns alle einfacher, wenn wir einen Chef hätten, der seine Arbeit beherrscht. Hast du zum Beispiel vor dieser Besprechung schon mal irgendwem gegenüber verlauten lassen, daß du mit Karen Borg gesprochen hast? Du erwähnst ganz nebenbei eine Vernehmung von Gagliostro, aber wo steckt das Protokoll? In meinen Unterlagen taucht es jedenfalls nicht auf. Auch von deinem Bericht über deinen und Severins Besuch in der Niels Juels gate habe ich noch nichts gesehen. Hast du mir auch nur einen Grund geliefert, meine Ermittlungen auf ein mageres Mädchen zu konzentrieren, bei dem bisher keiner von uns ein anderes Motiv finden konnte als den unklaren Wert einer mit Hypotheken belasteten Wohnung? Du kümmerst dich nur um deinen eigenen Kram und interessierst dich kein bißchen für das, was wir anderen herausfinden. Gestern zum Beispiel …«
Jetzt wandte sie sich an die anderen, als wolle sie vor einer Sekte für mißratene Polizeiangehörige Zeugnis ablegen.
»… hat meine Gruppe festgestellt, daß dieses Bild von Alexander Schultz, das der gute Sohn aus ästhetischen Gründen entfernt hatte – wofür die Mama noch heute dankbar ist –, später im Auktionshaus Blomquist verkauft worden ist. Für hundertneunzigtausend Kronen. Von Brede Ziegler. Den Bericht habe ich dir hingelegt, aber er war dir nicht mal einen Kommentar wert. Toller Chef, tolle Inspiration, meine Güte.«
Sie starrte Billy T. wütend an und war nicht mehr rot. Ihre Wangen waren bleich wie Papier, ihre Augen glänzten. Ihr Mund zitterte heftig, als könne sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. Aber sie redete weiter. Ihr Zornesausbruch war nicht nur eine Reaktion auf das schroffe Verhalten, das der Hauptkommissar in der vergangenen Stunde an den Tag gelegt hatte. Billy T. führte sich seit über einem halben Jahr auf wie ein Mistkerl, und Karianne Holbeck hatte das gründlich satt.
»Diese ganze Ermittlung ist ein Skandal! Das weiß ich, und du weißt es auch. Alle hier im Ram wissen das. Und verdammt noch mal, bald wird alle Welt es wissen. Liest du Zeitungen, Billy T.?«
Karianne Holbeck fluchen zu hören war ebenso schokkierend wie die Tatsache, daß sie vor aller Ohren einen Vorgesetzten zusammenstauchte. Severin Heger war die Kinnlade heruntergeklappt. Klaus Veierød scharrte mit den Füßen und kratzte an einer auffälligen Warze an seinem linken Daumen herum. Die Warze fing an zu bluten. Silje Sørensen rümpfte die Nase und schaute mit leichter Schadenfreude zu Hanne Wilhelmsen hinüber, die nach wie vor mit verschränkten Armen dasaß und kein Wort sagte.
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