Das letzte Mahl: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
daß ich bei ihr vorbeischauen würde, wenn der Film vor elf Uhr zu Ende wäre. Ich weiß noch, daß ich auf die Uhr geschaut habe, als ich aus dem Kino kam. Es war zehn nach elf, und deshalb bin ich gleich nach Hause gegangen.
PROTOKOLLANTIN:
Waren Sie mit jemandem zusammen im Kino?
ZEUGIN:
Zusammen? Nein. Ach so, ich verstehe. Nein, ich war mit niemandem zusammen. Aber ein Bekannter war auch dort. Samir Zeta. Er arbeitet bei uns im Verlag. Wir haben am nächsten Tag über den Film gesprochen. Im Büro.
PROTOKOLLANTIN:
Und wann waren Sie zu Hause? Wo wohnen Sie eigentlich? Ach ja, hier steht es ja. Myklegardsgate, das ist doch ganz hier in der Nähe. In der Altstadt, nicht wahr?
ZEUGIN:
Ich kann nicht genau sagen, wann ich zu Hause war. Das war an dem Abend ja nicht wichtig. Ich habe die Straßenbahn genommen. In Richtung Ljabru. Ich steige immer an der Kreuzung Schweigaardsgate/Oslogate aus. Von dort aus bin ich in zwei Minuten zu Hause. Ich glaube, ich mußte an dem Abend eine Weile auf die Bahn warten.
PROTOKOLLANTIN:
Haben Sie noch etwas hinzuzufügen? Ist Ihnen während unseres Gesprächs noch etwas eingefallen?
ZEUGIN:
Nein, ich glaube nicht. Ich wollte nur sagen … (lange Pause) Daß ich meinen Besuch in Bredes Wohnung vergessen hatte … ich sehe ein, daß das sehr bedauerlich ist. Das müssen Sie mir glauben.
PROTOKOLLANTIN:
Sie werden zu weiteren Vernehmungen vorgeladen werden. Vielen Dank, daß Sie heute gekommen sind. Die Vernehmung endet um (Pause) 16.10 Uhr.
Notiz der Protokollantin:
Die Vernehmung fand ohne Pausen statt, es wurde Kaffee serviert. Die Zeugin reagierte heftig, als sie mit dem Inhalt der Videoaufnahmen aus der Niels Juels gate konfrontiert wurde. Während dieses Teils der Vernehmung hatte sie einen hektischen roten Fleck am Hals. Ansonsten klingen die Aussagen der Zeugin plausibel. Die Zeugin sollte zu weiteren Vernehmungen vorgeladen werden, sowie die juristischen Aspekte ihrer Aussagepflicht ermittelt worden sind. Ein offizielles Verhör sollte erwogen werden.
35
Billy T. war seit vier Stunden unterwegs. Er war so früh aufgebrochen, wie es sich anstandshalber überhaupt machen ließ; gegen zwei hatte er die Möglichkeit gesehen, weil alle anderen in ihre Arbeit vertieft waren. Ohne zu wissen, wohin, war er losgestiefelt, in Richtung Norden, über Enerhaugen. Beim Tøyenpark hatte er mit dem Gedanken gespielt, Schwimmen zu gehen, aber der Gedanke an die vielen Menschen, die ihm dabei begegnen würden, hatte ihn davon abgebracht. Er war weitergelaufen, und erst, als der Hovinvei fast hinter ihm lag, hatte er begriffen, daß er auf dem Weg zu Hanne Wilhelmsens Wohnung war. Sofort war er nach Westen abgebogen, am Pflegeheim von Tøyen vorbeigegangen und erst stehengeblieben, als ganz Nydalen hinter ihm lag und er nur noch zehn Minuten vom Maridalsvann entfernt war. Von da war er in Richtung Nordberg und Sogn gegangen. Am Ende hatte er ratlos, erschöpft und mit nassen Füßen vor dem Wohnblock in Huseby gestanden, in dem sein jüngster Sohn wohnte. Die Mutter des Kleinen war überrascht gewesen. Dieser Besuch fiel aus allen Abmachungen heraus, und sie hatte besorgt die Stirn gerunzelt, als er darum bat, Truls bis zum nächsten Morgen mitnehmen zu dürfen. Er wollte den Jungen dann in die Schule bringen. Truls hatte sich gefreut, seinen Vater zu sehen, und seine Freude war noch gewachsen, als ihm aufging, daß er Papa und Oma für sich haben würde, ohne seine Geschwister, ohne Tone-Marit. Die Frau seines Vaters war schon in Ordnung, aber immer schleppte sie ihr kleines heulendes Baby mit sich herum. Nun war es Abend und Truls schlief.
Die Großmutter des Jungen kam ins Schlafzimmer. Auch sie hatte über Billy T.s Bitte gestaunt: daß er mitsamt dem Kleinen bei ihr übernachten wollte. Ohne viel zu sagen, hatte sie ihr Bett frisch bezogen. Billy T. hatte nicht Einspruch erhoben, nicht einmal, als er sah, wie sehr seine Mutter unter ihrer Arthritis litt. Es war feuchtes Wetter, und das Sofa war hart und schmal.
»Stimmt etwas nicht?«
Er gab keine Antwort, sondern rollte sich noch weiter um den Jungen und zog die Decke über sie beide.
»Ja, wie du meinst. Tone-Marit hat angerufen. Sie hat sich Sorgen gemacht. Ich habe gesagt, du wärst müde und einfach so eingeschlafen. Bei euch zu Hause ist alles in Ordnung. Und Jennys Erkältung hat sich gebessert.«
Die Mutter berührte seinen Kopf mit den Fingerspitzen; er spürte die Wärme auf der Haut, die nach den vielen
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