Das letzte Opfer (German Edition)
wusste, dass er sie nicht anfassen und nichts verändern durfte, damit er keine Spuren verfälschte, musste er den Streifen abziehen. Kaum hielt er ihn in der Hand, sah er das dünne Rinnsal. Es bahnte sich wie in Zeitlupe den Weg durch das verkrustete Blut an ihrer Schläfe. Mit dem Klebestreifen hatte er eine kleine Kruste abgezogen. Doch Tote bluteten nicht!
Er tastete vorsichtig nach unten, um ihren Kopf etwas anzuheben und ihren Hals zu erreichen, weil er es nie gewagt hätte, den seltsam verrenkten rechten Arm anzufassen, geschweige denn den blau-roten linken. Durch das Klebeband wäre er ja auch gar nicht an ihren Puls gekommen. Als er die Finger unter ihr Kinn schob, fühlte es sich daneben so weich und nachgiebig an. Er hörte ein lautes Stöhnen. Es kam aus seinem Mund. Dann hatten die Fingerspitzen ihren Hals erreicht, und da pochte noch etwas, so leicht, dass er sekundenlang dachte, es müsse sein eigener Puls sein. Doch sein Puls jagte, und der ihre schien nicht zu wissen, ob die Mühe noch lohnte.
«Um Gottes willen», murmelte er, war mit zwei Schritten beim Fenster, riss es auf, ohne sich darum zu kümmern, ob er etwas veränderte oder Spuren verwischte. Frische Luft! Sie brauchte frische Luft, Wasser und einen Arzt natürlich. Und er hatte jetzt nicht die Zeit, sich mit Telefonieren aufzuhalten. Er drückte dem verdutzten Nachbarn sein Handy in die Finger und brüllte ihn förmlich an: «Notarzt und RTW, nein, der Christopher soll kommen, aber fix.»
Dann rannte er in die Küche, suchte ein Glas, füllte es mit Wasser, lief zurück, kniete neben ihr und wusste nicht weiter. Ihr das Glas an die Lippen zu setzen, war unmöglich. Er hätte sie erst auf den Rücken drehen und ihren Kopf stützen müssen. Dabei wusste er nicht einmal, wo er sie anfassen sollte oder ob er sie überhaupt bewegen durfte. Draußen hörte er den Nachbarn ins Handy sprechen: «Der Mann ist völlig außer sich. Er hat nur gesagt, der Christopher soll kommen, wahrscheinlich meint er einen Kollegen.»
«Nein, den Heli! Den Rettungshubschrauber, Sie Idiot», brüllte Klinkhammer.
«Erlauben Sie mal», sagte der Nachbar vorwurfsvoll, spähte hinein und verzog angewidert das Gesicht: «Großer Gott.»
«Den braucht sie jetzt», sagte Klinkhammer und sah, wie eines der geschwollenen Lider zuckte. Er meinte, sie hätte zu blinzeln versucht. Sie war bei Bewusstsein und versuchte zu sprechen. Er brachte sein Ohr dicht an ihre Lippen, hörte ein Blubbern und Zischen, nur zwei Worte verstand er. «Nicht fliegen.»
«Keine Angst», sagte er. «Die sind alle weg. Ich hab sie verscheucht und passe auf, dass sie nicht zurückkommen. Nicht reden jetzt, Frau Stichler, der Arzt ist gleich da.»
Es schien, dass sie nickte und noch etwas sagen wollte – mit diesem zertrümmerten Kiefer, den ausgetrockneten, rissigen Lippen und einer durchbissenen Zunge. Er hörte nur noch Zischlaute, ging in die Küche, suchte dort nach einem sauberen Tuch, das er befeuchtete, um wenigstens ihre Lippen zu betupfen. Mehr konnte er nicht für sie tun. Das Wenige tat er sehr intensiv, mit dem Kopf dicht über ihrem Gesicht, um nichts zu verpassen. Es kam nur nichts mehr.
Natürlich schaute er sich auch im Zimmer um, das ging ganz automatisch. Er registrierte die verwohnte Einrichtung und den langen Holzstiel vor dem Schrank, der wohl zu einem Schrubber gehörte, das Bürstenteil lag unter dem Tisch.
Hin und wieder schielte er auch zur Couch. Das Gesicht dort sah nicht viel anders aus als Karens Gesicht, nur die Farbe war anders, nicht blutig, sondern grünlich-grau. Die Verwesung war weit fortgeschritten. Ob es Barbara Lohmann war, hätte er nicht sagen können. Aber wer sollte es sonst sein? Vom Hals hing etwas herunter, das aussah wie die Enden eines schwarzen Schnürsenkels.
Ihm schien eine Ewigkeit vergangen, ehe draußen der Notarzt und ein RTW mit zwei Sanitätern vorfuhren. Dabei waren es nur wenige Minuten gewesen, sie kamen direkt aus Frechen. Die Kollegen aus Hürth brauchten etwas länger. Er ging in den Flur und öffnete die Haustür, damit nicht alle durchs Fenster steigen mussten. Abgeschlossen, wie er befürchtet hatte, war die Tür nicht.
Er war erleichtert, die Verantwortung an einen Mann abgeben zu können, der sich mit routinierten Griffen an ihr zu schaffen machte, keine Hemmungen hatte, die Fesselungen zu entfernen, den verrenkten rechten Arm zu inspizieren, eine Kanüle in den Handrücken zu stechen und eine Infusion
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