Das letzte Opfer (German Edition)
einer Halluzination erlegen war.
An ihrem Hals gab es eine oberflächliche Schnittwunde, wie Scheib es sich vorgestellt hatte. An den Handgelenken hatte sie jedoch nur Streifen von so genanntem Paketklebeband, an den Fußgelenken ebenso. Sie hatte auch keine Barbiturate im Leib, nur insgesamt siebzehn Knochenbrüche, wobei einige Knochen mehrfach gebrochen waren, die linke Hüfte, das linke Schulterblatt, der linke Arm und der Unterkiefer.
Seit mehr als vierundzwanzig Stunden lag sie so in brütender Hitze, ohne einen Tropfen Wasser, nur mit ihrem Lebenswillen. Es war doch das einzige Leben, das sie hatte. Und weil das zuletzt Erlebte so unerträglich war, mischte ihr Bewusstsein längst Vergangenes mit dem letzten Entsetzen, bot ihr Fluchtwege, um es ihr leichter zu machen. Aber vielleicht suchte ihr Verstand auch nur nach Erklärungen.
Einmal lag sie als Marie Antoinette auf der Bühne, war geköpft worden. Und als der Vorhang fiel, sagte der Kunstlehrer: «Du warst phantastisch, Karen. Jetzt kannst du aufstehen.» Er irrte sich, sie konnte nicht einmal kriechen. So viele Rollen gespielt und in einigen gestorben, anders als jetzt, ohne Schmerzen, mit dem Applaus aus den Reihen des Publikums.
Applaus hatte sie auch gehört – irgendwann in diesen quälend langen Stunden. Ein lahmer Applaus, irgendjemand klatschte nur zwei- oder dreimal und sagte: «Gut gemacht, Junge, aber du hättest nicht so übertreiben müssen.»
Hin und wieder versuchte sie, sich vorwärts zu schieben in die Richtung, in der sie eine Tür vermutete und ein Telefon. Sie wusste genau, wo es stand, hatte es sogar einmal benutzt, an einem Nachmittag im Juli des vergangenen Jahres, als Sarah sie mitnahm, um Norbert abzuholen, und er noch nicht fertig war mit den Reparaturarbeiten.
Damals saßen sie zu dritt in dem kleinen Wohnzimmer, Sarah, Barbara Lohmann und sie. Sie tranken Kaffee, während Norbert draußen vor dem Fenster auf einer Mülltonne herumturnte, um eine tropfende Regenrinne abzudichten. Und Barbara sagte: «Ich bin wirklich froh, dass er uns hilft. Handwerker sind ganz schön teuer. Und das ist es nicht allein. Er hat auch einen sehr großen Einfluss auf Oliver.»
Ja, den hatte Norbert. Er schickte Oliver in den Ort, um noch irgendeine Klemme zu holen. Sie hörte das Auto abfahren und wusste, dass jetzt der richtige Moment war, um Klinkhammer anzurufen. Sie wusste auch, dass Barbara sie nicht daran hindern würde, mit Klinkhammer wegzufahren.
Der Apparat stand in dem schmalen Flur. Doch als sie das Telefon erreichte, dachte sie nur noch an Marko, der nicht wusste, wo sie war. Er kam sofort, um sie abzuholen. Doch er konnte sie nicht mitnehmen. «Tut mir Leid, Schatz», sagte er und ging wieder. Und sie flüchtete sich für ein paar Minuten in eisiges Wasser, paddelte in einem knappen Bikini herum und brüllte: «Komm her und ersäuf mich endlich.» Er hätte es besser getan. Aber er lachte nur und sagte: «Leben ist doch schöner als sterben, oder?»
Natürlich war es das. Sie wollte auch nicht wirklich sterben, wollte nur nicht länger auf einem Fußboden liegen, belästigt von Fliegen, die zwischen ihr und einer Leiche hin und her schwirrten. Und Klinkhammer kam nicht.
Christa kam – so ähnlich wie der Kunstlehrer, der nichts getan hatte, ihr vom Boden aufzuhelfen. Christa schaute sich zumindest ihre blutende Stirn an, das aufgeschürfte Knie und den ausgeschlagenen Milchzahn, den sie in der Hand nach Hause brachte. Sie war vier Jahre alt und mit Norbert auf einem Spielplatz gewesen. Er hatte verlangt, sie solle vom Klettergerüst springen. «Jetzt mach schon, sei nicht feige, ich fang dich.»
Das tat er auch, dann fielen sie beide. Und sie schlug mit dem Gesicht auf die hölzerne Umrandung des Sandkastens. Christa klebte ein Pflaster aufs Knie und eins auf die Stirn, betrachtete die Lücke im Mund und verlangte: «Mach nicht so ein Theater darum, da wächst einer nach. Und kein Wort zu Papa. Norbert hat es nicht mit Absicht gemacht. Ihm tut es fast mehr weh als dir.»
Es hatte zwei Jahre gedauert, ehe ein Zahn nachwuchs. So lange konnte sie jetzt nicht warten. Es wurde höchste Zeit, dass Klinkhammer kam. Ihr Leben brach auf, sich einen Ort zu suchen, an dem es schön war. Es war ein seltsam leichtes Gefühl wie Nebel im Hirn. Das Summen der Fliegen wurde zu Musik, und der penetrante Gestank wandelte sich in einen süßlich blumigen Duft, Lis Parfüm.
Sie stand in ihrer Ecke an der Theke. Li füllte Eiswürfel in ein
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