Das letzte Opfer (German Edition)
Glas und goss Cola dazu. Aber sie stellte das Glas nicht auf den Tresen, wie sie es sonst immer tat. Diesmal kam sie damit hinter der Theke hervor, stieß den Rothaarigen vor die Brust, ging zum Ausgang und winkte, sie solle ihr folgen. Was blieb ihr anderes übrig? Sie war so furchtbar durstig, hätte alles gegeben für einen kühlen Schluck. Niemand sah, dass sie sich in Bewegung setzte.
Li trug das hautenge grüne Kleid – wie an dem Vormittag im Regen, als sie durch die Stadt gelaufen waren, zu zweit unter einem Schirm. Und ein Halskettchen trug sie, das Norbert ihr geschenkt hatte in den wenigen Wochen, in denen er glücklich mit ihr gewesen war, so glücklich wie nie zuvor und nie wieder danach. Ein Mann auf Wolke sieben, der zu ihr sagte: «Wenn ich im Januar schon gewusst hätte, dass ich so eine Frau kennen lerne, hätte ich dir den Spaß gegönnt mit deinem Romeo.»
Li stieß die Tür auf, draußen war es sehr hell. Das grelle Licht kam von der Sonne, die ein großes, weißes Flugzeug zum Glitzern brachte. Es schwebte lautlos und hoch über den Dächern, eine herabgelassene Strickleiter verlor sich im flirrenden Licht. Li stieg hinauf, bis sie nicht mehr zu sehen war. Nur ihre Stimme kam noch klar und deutlich von oben: «Nun komm schon, wir fliegen nach China.»
Sie wollte nicht nach China, nicht ohne Jasmin. Sie konnte doch ihr Wunderkind nicht zurücklassen bei Christa, die nie etwas von einer Vergewaltigung hätte hören wollen, die wahrscheinlich gesagt hätte: «Mach nicht so ein Theater darum. Norbert hat es nicht mit Absicht gemacht. Ihm tut es fast mehr weh als dir.»
Aber auch wenn sie nicht wollte, sie kam nicht an gegen den Zwang, die Strickleiter zu packen und sich nach oben zu hangeln. Bei jeder Sprosse flehte sie einen barmherzigen Gott im Himmel an, er möge Klinkhammer am Ende der Leiter stehen lassen, um ihren Pass zu kontrollieren. Den hatte sie nämlich nicht dabei. Und ohne Pass durfte er sie nicht nach China fliegen lassen.
Nur gab es keinen barmherzigen Gott, oder wenn doch, verzieh er ihr wohl nicht, dass sie aus seinem Sohn ein Besatzungskind gemacht hatte, um ihre Tochter und ihren Bruder lieben zu können. Am Ende der Strickleiter wartete nur Margo, um sich von ihr zu verabschieden. «Ich glaube, es ist besser, wenn du jetzt gehst», sagte Margo, führte sie zu ihrem Platz neben Li und half ihr, sich im Sitz anzuschnallen.
Allmählich wurde es kühl. Marko hatte die Klimaanlage eingeschaltet. Er saß im Cockpit, war der Pilot. Das fand sie seltsam, wo er doch nicht fliegen mochte. Er lächelte sie an. «Mach dir keine Sorgen, Schatz», sagte er. «Ich weiß schon, was ich tue.»
Sie glaubte ihm, dass er es wusste und alles richtig machte. Er machte immer alles richtig. Trotzdem bekam sie Angst, dass er sie in China zurückließ und alleine wieder nach Hause flog. Das machten Piloten doch so. Aber sie wollte bei ihm bleiben, weil er in seinem Kopf hatte, was ihr fehlte. Die Fahrt auf einer kurvigen Straße im Bergischen Land und den Tod.
Der Taubenjäger
Während der große weiße Flieger nach China aufbrach, stand Arno Klinkhammer noch in staubiger Hitze auf der Straße und unterhielt sich mit einem Nachbarn der Geschwister Lohmann. Eine Nachbarschaft im engeren Sinne gab es bei Barbara und Oliver nicht. Ihr Häuschen und der dazu gehörige Schuppen lagen am Ortsrand von Frechen. Dahinter führte die befestigte Straße nur noch zwanzig Meter weit zu einer großen Wiese. Der nächste und einzige Nachbar wohnte gut hundert Meter entfernt und hatte über Ostern einen Kurzurlaub an der Nordsee verbracht. Ob Norbert zweimal stundenlang vor dem Haus im Auto gesessen hatte, konnte er folglich nicht bestätigen.
Zum gestrigen Samstag konnte er auch nicht viel sagen. Er hatte zusammen mit seiner Frau Einkäufe gemacht, sie waren erst weit nach Mittag wieder zu Hause gewesen. Am frühen Nachmittag hatte seine Frau ihm erzählt, die Lohmanns wären wohl auch aus dem Urlaub zurück. Sie hatte gegen drei Uhr ein Auto vorbeifahren hören. Ob sie auch etwas gesehen hatte, wusste er nicht. Und jetzt war seine Frau nicht da.
Für Klinkhammer war der Hinweis auf ein Auto ein Grund mehr, in das Haus einzudringen. Der Nachbar war Dachdeckermeister, verfügte über mehr als eine Leiter und half bereitwillig, sie zu tragen, obwohl eine Leiter gar nicht notwendig gewesen wäre. Das größere Fenster im Erdgeschoss lag nur einen halben Meter über dem Erdboden, die Fenster im ersten Stock
Weitere Kostenlose Bücher