Das letzte Opfer (German Edition)
ehe nicht feststeht, dass die Frauen einem Verbrechen zum Opfer gefallen sind. Die Urlaubsvariante ist absurd, auf so etwas kann auch nur Kirby kommen.»
Wagenbach kannte den FBI-Profiler dem Namen nach und hatte nicht die beste Meinung von ihm, weil Kirby auch als Berater für einschlägige Hollywood-Filme fungierte. In solche Filme passe der hochintelligente, nicht triebgesteuerte Serienmörder, meinte Wagenbach, aber die Wirklichkeit sähe anders aus.
Im Übrigen könne man nichts tun, bevor nicht eine der vermissten Frauen tot aufgefunden wurde. Man brauche zumindest ein Opfer in einem Zustand, der den Gerichtsmedizinern Aufschluss über Todesursache und Zeit gebe. Danach könne man über den Mörder nachdenken. Das klang nicht mehr gar so sehr nach Ablehnung und auch nicht so, als müsse man auf ein neues Opfer warten.
In den folgenden Wochen konzentrierte Thomas Scheib sich darauf, das von Kirby vorausgesetzte erste Opfer aufzuspüren, wie er es schon einmal getan hatte, um die Lücke 1990 zu füllen. Zurückgekommen war er mit einem Fragebogen, wie er in den USA Verwendung fand. Bei jedem gewaltsamen Todesfall sollten die Ermittler den Bogen ausfüllen, was sie meist nicht taten, weil der Fragebogen sehr umfangreich war.
Während seine Frau ihren Sohn zur Welt brachte, verfasste Scheib seinen eigenen Fragebogen, beschränkte sich auf das Nötigste, das passte auf eine Seite. Dazu setzte er ein zweiseitiges Begleitschreiben auf. Das verschickte er bundesweit an alle großen Polizeidienststellen mit der Bitte um Auskunft und Weiterleitung an kleinere Dienststellen in der Umgebung.
Er fragte nach Tötungsdelikten in den frühen achtziger Jahren, bei denen das Opfer weiblich und Anfang bis Mitte zwanzig oder etwas jünger gewesen war. Weiter als bis 1980 zurückgehen müsse er nicht, hatte Kirby gesagt, da wäre der Mörder zu jung gewesen. Er solle auch nicht ausdrücklich auf den 14. September verweisen, weil der Mörder beim ersten Mal nicht unbedingt an diesem Tag habe zuschlagen können.
Die Aktion führte zu verschiedenen Hinweisen, von denen nur einer ins Bild passte. Ein ungeklärter Mord. Das Opfer hieß Anja Heckel, war neunzehn Jahre alt gewesen, hatte sich im letzten Jahr einer Ausbildung zur Buchhändlerin befunden, in Euskirchen gearbeitet und bei ihren Eltern in Blankenheim in der Eifel gelebt.
An einem Samstagabend im September 1982 war Anja Heckel aus dem Haus gegangen, um mit einem jungen Mann eine Kölner Diskothek am Clodwigplatz zu besuchen. Sie war dort auch noch gesehen worden mit einem dunkelhaarigen Mann ihres Alters.
Anjas Leiche wurde schon montags bei Holzfällerarbeiten in einem Waldstück entdeckt – ziemlich bald, wie Kirby es gesagt hatte, und nur sieben Kilometer von ihrem Elternhaus entfernt. Sie war nicht vergraben, nur mit Laub und Erde bedeckt, was ebenfalls mit Kirbys Prognose übereinstimmte. Auf den ersten Blick sah es nach einem Sexualmord aus. Die Leiche war unbekleidet, zeigte Spuren von Faustschlägen und Fußtritten. Um den Hals war ihre Strumpfhose geschlungen. Die restliche Bekleidung, Handtasche und ein Paar auffällige Ohrhänger, so genannte Kreolen, wurden nie gefunden, was mit der Fundsituation Elisabeth Brandow übereinstimmte.
Da der Fundort nicht der Tatort war, nahm die Polizei an, Anjas Mörder habe ihre Sachen am Tatort zurückgelassen oder unterwegs weggeworfen. Entsprechende Suchaktionen und Aufrufe in der Presse brachten jedoch kein Ergebnis. Und der rechtsmedizinische Befund widerlegte den ersten Eindruck. Anja war nicht erdrosselt, sondern ertränkt und erst nach Eintritt des Todes misshandelt, jedoch nicht sexuell missbraucht worden. Die Strumpfhose hatte der Mörder ihr postmortal um den Hals geschlungen.
Ein dunkelhaariger Mann – wie der Begleiter von Julia Roberts. Tod durch Ertrinken! Und bei Elisabeth Brandow waren Kehlkopf und Zungenbein intakt gewesen. Er hätte geschworen, dass sie ebenfalls ertränkt worden war. Kirby sah es wie er. Anja Heckel war die Erste gewesen. Ein Mörder ohne Erfahrung, der jedoch rasch lernte.
«Er will sie sich nicht wegnehmen lassen», sagte Kirby. «Wahrscheinlich besucht er von Zeit zu Zeit die Gräber. Und ihre Sachen nimmt er mit. Inzwischen muss er eine beachtliche Sammlung haben.»
Eine mehr als beachtliche Sammlung. Scheib durfte gar nicht darüber nachdenken, wie viele Leute das Phantom mit einem Koffer, einer Reisetasche oder dem Fotoapparat von Silvia Lenz gesehen haben mochten. Oder dass
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