Das letzte Opfer (German Edition)
noch unschuldig.
Kirby
Im Herbst 1995 flog Thomas Scheib zum ersten Mal in die USA, nach Virginia. Seine Frau war im achten Monat schwanger und konnte ihn nicht begleiten, wollte auch nicht, weil es preiswerter war, zu Hause zu bleiben. Seit Julia Roberts’ Verschwinden war ein Jahr vergangen. Halbzeit, sagte er, und investierte seinen Jahresurlaub, um in Quantico mit einem Profiler des FBI über seine Theorie und seine Vorstellung des Täters zu sprechen.
Er lernte Donald Kirby kennen, der es vorzog, einfach nur beim Nachnamen genannt zu werden. Kirby war Ende fünfzig, hatte wie Wagenbach ein Studium absolviert und große Erfahrungen als Profiler gesammelt, auch ein paar Bücher über seine Arbeit verfasst. So war Scheib auf ihn aufmerksam geworden. Und Kirby schmeichelte es, dass die Lektüre seiner Werke einen jungen Mann befähigt hatte, mit einem fertigen Täterprofil anzureisen, das man nur hier und da ein wenig korrigieren musste.
Zum ersten Mal erhielt Scheib eine Bestätigung aus berufenem Mund. Für einen Laien ohne nennenswerten psychologischen Background habe er eine beachtliche Leistung erbracht, meinte Kirby und erklärte ihm erst einmal, warum es in Wiesbaden oder anderswo keine Zustimmung gab. Wer machte sich gerne mehr Arbeit als unbedingt nötig? Wer wollte die Statistik verderben mit unaufgeklärten Morden? Solange die Frauen als abgängig geführt wurden, durfte jeder Polizeisprecher behaupten, die Aufklärungsquote bei Mord sei die höchste.
Natürlich waren sie tot. Die fehlenden Beweise sprachen für einen systematischen oder geordneten Mörder, der im Gegensatz zum chaotischen Typ eben nicht Unmengen von Spuren hinterließ, auch keine Leichen. Kirby glaubte sogar, es seien mehr Opfer als die fünf, von denen er wusste. Elisabeth Brandow konnte nicht die Erste gewesen sein.
«Die Erste hat er nicht vergraben», sagte Kirby. «Hat sie liegen lassen, nur notdürftig abgedeckt. Er hatte sich zwar schon ausgiebig seinen Tötungsphantasien hingegeben, aber noch nicht über den Punkt hinausgedacht. Er wusste nicht, was er mit der Leiche tun sollte. Sie wurde bald gefunden. Vielleicht ist er in die Ermittlungen geraten, das hat ihm nicht gefallen. Deshalb war er beim zweiten Mal besser vorbereitet. Gut möglich, dass er zuerst ein Grab ausgehoben hat und sich danach erst auf die Suche machte. Aber Gräber machen eine Menge Arbeit, und beim ersten weiß man noch nicht, wie tief es sein muss. Es war nicht tief genug bei Brandow.»
Damit schloss Kirby aus, dass der Täter aus Würzburg oder Umgebung stammte, wie Scheib bis dahin angenommen hatte. Irgendwo in Deutschland müsse es noch einen ähnlichen, ungeklärten Mordfall geben, der eventuell als geklärt gelten könne. Es habe schon mehr als ein Unschuldiger seinen Kopf hinhalten müssen. Julias Roberts’ Freund sei dafür ein gutes Beispiel. «Wenn du das erste Opfer aufspürst, kannst du ihn zumindest gebietsmäßig lokalisieren», sagte Kirby.
Für die Tatsache, dass nach Elisabeth Brandow keine Leichen mehr gefunden worden waren, bot er zwei Alternativen. Verschleppung ins Ausland gehörte nicht dazu, Italien war nur ein Lockmittel oder eine falsche Fährte für die Ermittler. Es mochte seit dem dritten Opfer Angela Karpeling einen immer gleichen Tatort in der Komfortzone geben. Dort kannte der Mörder jeden Winkel, jeden Weg. Dort konnte er einen Platz haben, an dem er sich ungestört und sehr lange mit seinen Opfern beschäftigte und Erinnerungen aufbewahrte, die ihm halfen, die relativ lange Zeit bis zum nächsten Mord zu überbrücken, wo er die Frauen schließlich auch begrub.
Aber Kirby tendierte zur zweiten Möglichkeit, die auch den Zweijahresrhythmus erklärte. Er war ein Gewohnheitstier und hatte Familie. Vor Jahren nur seine Schwestern und die Mutter, die ihm nicht viel Freiraum ließ. Inzwischen konnte er durchaus Frau und Kinder haben und deshalb gezwungen sein, seine Opfer binnen kürzester Zeit in der Nähe ihrer Wohnorte zu töten und auch dort zu beseitigen.
«Wahrscheinlich gönnt er sich sein Vergnügen nur im Urlaub», spekulierte Kirby. «In einem Jahr reist er mit Frau und Kindern, nutzt die Zeit womöglich schon, um ein Gebiet auszuwählen, sich mit der Gegend vertraut zu machen und eine geeignete Grabstelle zu suchen. Im nächsten Jahr geht er allein auf Tour, trifft seine Vorbereitungen, sucht ein Opfer, wahrscheinlich mehr als eins. Es wird nicht jeder Kontakt zum Ziel führen.»
Bei dieser Vorgehensweise
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