Das letzte Opfer (German Edition)
vielleicht irgendwo eine junge Frau lebte, die sich ärgerte, wenn ihr Mann alle zwei Jahre alleine in Urlaub fuhr, und mit einer Armbanduhr, einem Paar modischer Ohrhänger oder sonst etwas versöhnt wurde, wenn er von seiner Tour zurückkam. Wahrscheinlich müsste diese Frau einen entsetzlichen Kampf mit sich ausfechten, wenn sie in einer Zeitung las, wem die kleinen Geschenke zuvor gehört haben könnten. Vielleicht verdrängte sie den Verdacht, der dabei entstehen müsste. Aber vielleicht griff sie doch zum Telefon.
Mit diesem Argument versuchte Scheib noch einmal sein Glück bei Wagenbach. Doch der Kriminalpsychologe blieb skeptisch. Er hielt die Zusammenhänge für konstruiert und behauptete, kein Serienmörder wäre über einen Zeitraum von mehr als einem Jahrzehnt unbehelligt geblieben.
Für Scheib klang das, als wolle Wagenbach späteren Vorwürfen entgegenwirken. Es musste zwangsläufig ein Schrei der Empörung durch die Öffentlichkeit gehen, sollte sich irgendwann beweisen lassen, dass tatsächlich ein Mann seit den frühen achtziger Jahren hatte töten können, ohne dass die Polizei großartig etwas unternommen hätte.
Jasmins Vater
Während Thomas Scheib sich in dem Sommer beinahe jede Nacht durch Albträume wälzte, in denen er das nächste Opfer sterben sah, rückte für Karen der schwarze Freitag im September 1990 wieder in den Hintergrund. Sie war zum zweiten Mal schwanger und konzentrierte sich darauf, ein Leben zu schenken, nachdem sie eines genommen hatte. Jeden Tag genoss sie, es war alles anders als bei Jasmin. Diesmal musste sie keine romantische Liebesgeschichte erfinden und das Bäuchlein nicht verstecken.
Sie war stolz auf sich. Es war nicht leicht gewesen, wieder schwanger zu werden. Marko hatte unendlich viel Geduld aufbringen müssen. Zum Glück war er nicht so versessen auf Sex wie andere. Sarah stöhnte oft, dass Norbert jeden Abend könne und meist auch wolle. Marko hatte sich nie beschwert, wenn sie ihn zurückwies, sie nie bedrängt, ihr nicht einmal eine Erklärung abverlangt, wenn sie schon zurückzuckte, nur weil er ihr beim Küssen eine Hand in den Nacken legte.
Er nahm an, es hinge mit ihrer ersten Begegnung nach dem Tod des Radfahrers zusammen und mit seinem widerlichen Verhalten in der Zeit, als er noch nichts mit ihr zu tun haben wollte. Aber es hatte andere Gründe. Wenn sie seine Hand im Nacken fühlte, wurde ihr jedes Mal bewusst, dass es nie einen italienischen Austauschschüler gegeben hatte, nur einen unerlaubten Diskothekenbesuch nach einer Theaterprobe im Januar 1988.
Ein anspruchsvolles Stück, Romeo und Julia in zeitgemäßer Fassung. Sie war Julia, seit vierzehn Tagen, mit ganzem Herzen und schon nach der zweiten Probe bis über beide Ohren verliebt. Romeo, mit bürgerlichem Namen hieß er Johannes Franken, war bereits achtzehn. Der Kunstlehrer hatte ihn aus der Oberstufe geholt, weil es unter den Mitgliedern des Ensembles keinen geeigneten Darsteller gab. Sie waren alle viel zu albern, er nicht.
Er nahm seine Rolle sehr ernst, und von Theaterküssen hielt er gar nichts. Als er den Vorschlag machte, nach der Probe noch eine Diskothek zu besuchen, waren vier andere spontan begeistert. Und als er sie anschaute: «Kommst du mit? Ich fahre dich auch nach Hause», gab es kein langes Überlegen, auch keinen Gedanken an Christa, die garantiert fragen würde, warum es diesmal so spät geworden war.
Johannes verfügte über ein Auto, in das sie sich zu sechst hineinquetschten, um zum Clodwigplatz zu fahren. Die anderen vier verloren sich rasch im Getümmel. Sie und er standen allein in einer schummrigen Ecke und probten inbrünstig eine Liebesszene. Bis Norbert auftauchte.
Mit ihrem Bruder hatte sie nicht gerechnet. Er hatte doch sein Stammlokal an der Zülpicher Straße. Dass er auch mal woanders hinging, hatte er noch nie erwähnt und auch nicht, dass er im September 1982 bei genau dieser Diskothek am Clodwigplatz Streit gehabt hatte. Davon hörte sie erst Jahre später.
Er riss sie und Johannes auseinander und brüllte gleich los: «Das träum ich aber nur, mach bloß, dass du nach Hause kommst.»
Ein Mann mischte sich ein, ein richtiges Kraftpaket mit kurzgeschorenen, roten Haaren, er sah aus wie ein Boxer. «Was regst du dich denn so auf? Gönn der Kleinen doch den Spaß.»
«Halt dich raus, wenn dir deine Zähne lieb sind!», schrie Norbert den Mann an, obwohl er fast einen Kopf kleiner und mindestens zwanzig Kilo leichter war als der Rothaarige. «Die
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