Das letzte Opfer (German Edition)
Was sollte passieren, wenn jemand für zwei Sekunden sein Gesicht sah?
«Du siehst doch, was dabei herausgekommen ist», sagte Kirby in Anspielung auf die unbrauchbare Phantomzeichnung. «Das war es ihm wert. Einmal musste er es allen zeigen. Er hat keine falschen Spuren gelegt. Er hat Zeichen gesetzt.»
Die Zigarettenkippe, meinte Kirby, sollte bezeugen, dass er sich länger als ein paar Minuten bei Julia aufgehalten hatte und ihr so wichtig gewesen war, dass sie, die militante Nichtraucherin, ihm gestattete, was allen anderen verboten war. Dass er die Zigarette selbst geraucht hatte, war unwahrscheinlich. Da hätte auch Asche auf dem Blumenuntersetzer liegen müssen. Die Kippe konnte er überall eingesteckt haben. Die Visitenkarte war als Botschaft an die Ermittler zu verstehen. Statt einer nicht existierenden Castingagentur hätte er auch darauf drucken können: «Ich bin der perfekte Mörder.»
«Und so wie die Dinge stehen, ist er nicht größenwahnsinnig», sagte Kirby. «Er weiß genau, was er tut.»
«Und was kann man tun, um ihn zu stoppen?», fragte Thomas Scheib.
«Hoffen», sagte Kirby mit breitem Grinsen. «Vielleicht sieht beim nächsten Mal jemand etwas mehr als für zwei Sekunden ein Gesicht. Ein Autokennzeichen wäre nicht schlecht.»
Für diesen Fall gab es auch eine Strategie, die Kirby ihm nachdrücklich ans Herz legte. Langsam heran! Nur nichts überstürzen! Vorsichtig checken, sobald sich ein Verdacht abzeichnete. Dieser Kerl durfte nicht bemerken, dass er ins Visier der Polizei geraten war. Einen seit zehn oder zwölf Jahren aktiven Serienmörder nahm man nicht einfach fest. Ein Geständnis von ihm bekäme man nie ohne Beweise. Und Beweise bekam man nur, wenn man ausreichend Verdachtsmomente hatte, einen Ermittlungsrichter überzeugte, einen Durchsuchungsbeschluss in die Finger bekam und überraschend zugreifen konnte. Andernfalls verschaffte man ihm ausreichend Zeit, seine Erinnerungen zu beseitigen. Kirby war sicher, dass er Gegenstände aus dem Besitz der Opfer aufbewahrte, um sich daran zu ergötzen.
«Was immer du tust», sagte Kirby, «lass ihn erst wissen, dass du hinter ihm her bist, wenn du ihn festnageln kannst. Sonst kannst du ihn vergessen. Und wenn du einen wirklich guten Rat willst, vergiss die ganze Sache sofort.»
Denn dass er je in die glückliche Lage käme, anhand eines Autokennzeichens einen Namen zu ermitteln und der empfohlenen Strategie zu folgen, glaubte Kirby nicht. «Er wird sich nicht noch einmal mit einer Frau zeigen. Beim nächsten Mal wählt er wieder nach einer Zeitung aus, kontaktiert telefonisch und lässt sie kommen. Ihm wird schon noch einfallen, bei welcher Art von Annoncen er nicht mit einer hässlichen Überraschung rechnen muss.»
Dass der nächste Mord verhindert werden könne, hielt Kirby für völlig ausgeschlossen. Wie wollte man ein potenzielles Opfer warnen, durch einen bundesweiten Aufruf, nicht zu annoncieren oder neuen Bekanntschaften gegenüber skeptisch zu sein? Und den Mörder über die Medien nervös machen oder aus der Reserve locken, was in anderen Fällen schon zu Erfolgen geführt hatte? Darüber lachte Kirby nur.
«Du kannst in die Zeitung bringen, was du willst. Er wird sich nicht verpflichtet fühlen, es zu korrigieren. Manche dieser Intelligenzbestien genießen das Spiel mit den Ermittlern. Aber dieser Kerl spielt nicht. Ein Spiel ist Vergnügen. Er vergnügt sich nicht. Er zieht sein Ding durch und braucht dafür keine Anerkennung.»
Obwohl Kirby ihn vor einer Presseaktion gewarnt hatte, bekniete Thomas Scheib nach seiner Rückkehr Lukas Wagenbach, den Fall an die Öffentlichkeit zu bringen. Er glaubte, genug in der Hand zu haben, um das Phantom in die Enge zu treiben. Erinnerungen! Daran hatte er bisher nicht gedacht. Es gab ja nur eine Leiche, an der er sich orientieren konnte.
Aber alle Frauen hatten Gepäck bei sich gehabt. Silvia Lenz hatte einen teuren Fotoapparat mitgenommen. Er hatte routinemäßig von Angehörigen Listen erstellen und markante Gegenstände beschreiben lassen. Von ein paar Schmuckstücken hatte er sogar eigenhändig Zeichnungen angefertigt, die irgendwann zu einer Identifizierung beitragen könnten.
Allein die Vorstellung, dass der Mörder vielleicht einen Koffer, eine Reisetasche oder den Fotoapparat von Silvia Lenz über einen gewissen Zeitraum selbst genutzt hatte und damit gesehen worden war. Und Wagenbach sagte: «Das sind doch reine Spekulationen. Man kann kein Täterprofil erstellen,
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