Das letzte Opfer (German Edition)
Kleine ist meine Schwester und erst fünfzehn.» Dann schaute er wieder sie an, zeigte zum Ausgang. «Wird’s bald, oder muss ich nachhelfen?»
Was blieb ihr anderes übrig? Sie warf Johannes noch einen schmachtenden Blick zu, tröstete sich damit, ihn am nächsten Morgen auf dem Schulhof wiederzusehen, und machte sich auf die Suche nach einer Bus- oder Straßenbahnhaltestelle.
Schritte hinter sich oder sonst etwas hörte sie nicht. Sie fühlte sich nur plötzlich im Genick gepackt wie kurz zuvor in der Diskothek. Deshalb dachte sie, es sei Norbert. Er packte sie oft so, aus Spaß, wenn sie herumbalgten. Den Karnickelgriff nannte er das. Er schob sie auf die Büsche am Straßenrand zu. Als sie protestierte, schlug er ihr mit einer Faust in den Rücken.
Und sie nahm an, Norbert sei sehr wütend, weil er sie mit einem jungen Mann erwischt und selbst noch nicht viel Glück bei Frauen gehabt hatte. Sie rechnete fest damit, im nächsten Moment seine Stimme zu hören. Aber wer immer sie mit der Hand im Nacken gepackt hielt, er sprach kein Wort, drückte sie hinter den Büschen zu Boden, stieß sie mit dem Gesicht in den Dreck, riss ihr den Parka hoch und stülpte ihn ihr über den Kopf. Sie protestierte noch einmal, diesmal lautstark, versuchte, sich umzudrehen, den Parka vom Kopf zu streifen, und erhielt mehrere Schläge in den Rücken, so heftig, dass ihr die Luft wegblieb.
Dann zerrte er ihr die Jeans herunter, riss ihr die Unterwäsche vom Leib und drückte ihre Beine auseinander. Sie spürte sein Gewicht auf sich und den stechenden Schmerz, als er in sie eindrang. Da begriff sie endlich, dass es nicht Norbert sein konnte. So etwas hätte er ihr niemals angetan, er war doch ihr Bruder.
Es tat höllisch weh. Und sie hatte panische Angst, dass er sie umbrachte, wenn sie noch einmal versuchte, ihm ins Gesicht zu schauen. Also schloss sie die Augen, kniff sie ganz fest zusammen, biss die Zähne aufeinander und stellte sich vor, sie läge auf der Bühne mit Johannes. Dass es nicht wirklich geschah, gewiss nicht in dieser furchtbaren Art. Dass der Kunstlehrer gleich sagen würde: «Du warst phantastisch, Karen.» Sie stellte es sich so intensiv vor, dass sie kaum spürte, wie er von ihr abließ.
Er trat ihr in die Seite, gegen die Beine, in die Rippen. Und dann war er plötzlich weg, sie hörte ihn rennen, hörte auch einen Fluch und das Knirschen zögernder Schritte, die sich dann ebenfalls eilig entfernten. Irgendwie vermischte sich beides. Und später meinte sie, sie habe sich nur eingebildet, da sei jemand gekommen, der ihren Vergewaltiger verscheucht hatte.
Sie blieb liegen. Vielleicht wartete sie wirklich darauf, dass der Kunstlehrer sagen würde: «Du kannst jetzt aufstehen, Karen.»
Irgendwann spürte sie etwas Kaltes, Feuchtes an der Wange. Und die Stimme einer älteren Frau kreischte in schrillem Ton: «Komm weg, Lilli, komm weg da, um Gottes willen.»
Erst da wurde ihr klar, dass sie nicht die ganze Nacht im Dreck und in der Kälte liegen konnte. Es war sehr kalt in dieser Nacht, unter Null Grad. Die ältere Frau kam langsam näher, weil der Hund ihr nicht gehorchte, schlug eine Hand vor den Mund, als Karen sich aufrappelte, und fragte überflüssigerweise: «Ist was passiert?»
«Nein», stammelte sie hastig. «Es ist nur – wir proben für ein Theaterstück und ich wollte – es war nur gespielt.»
Die Frau schimpfte; es sei eine Unverschämtheit, sich mit nacktem Unterleib ins Gebüsch zu legen. «Hat deine Mutter dir kein Schamgefühl beigebracht?» Dann nahm sie den Hund an die Leine, zerrte ihn zur Straße, schimpfte weiter. Da verstehe noch einer die Jugend, das müsse man der Polizei melden.
Hätte man wohl, aber daran konnte sie nicht denken. Sie blutete und hatte nur ein Päckchen Papiertücher bei sich. Ihre Jeans lag im Gebüsch. Ihr Höschen war weg, das hatte er mitgenommen. Zum Glück war es nur ein einfaches weißes, davon hatte sie genug, sodass Christa es nicht vermissen konnte.
Wie sie nach Hause gekommen war, wusste sie nicht. Vermutlich mit einer Straßenbahn, zum Laufen war es viel zu weit. Christa war vor dem Fernseher eingeschlafen, als sie die Wohnung betrat. Norbert war noch nicht da. Sie kam unbemerkt in ihr Zimmer. Ihr war danach, ein Bad zu nehmen, aber vom Wasserrauschen wäre Christa bestimmt aufgewacht und hätte wissen wollen, was sie um die Zeit noch in der Wanne trieb.
Norbert kam etwa eine halbe Stunde nach ihr in die Wohnung. Sie lag noch wach, hörte ihn mit
Weitere Kostenlose Bücher