Das letzte Opfer (German Edition)
Ohrstecker legte sie gar nicht mehr ab.
Auch sonst kümmerte Marko sich rührend um sie. Wenn er unterwegs war, rief er mehrmals täglich an. Wenn er in Köln zu tun hatte, nahm er sie manchmal mit in die Agentur, und im November einmal mit in die Eifel, wohin er sonst nur alleine fuhr, um ihr den Umgang mit seiner verschrobenen Großtante zu ersparen. Doch nun war die alte Frau gestorben, friedlich in ihrem Bett eingeschlafen. Marko hatte sie bei einem seiner regelmäßigen Besuche gefunden und in aller Stille beerdigen lassen. Margo wäre ohnehin nicht zum Begräbnis gekommen, und ihr wollte er nicht zumuten, auf einem Friedhof zu stehen, damit nicht am Ende wieder Gedanken an den Radfahrer aufkamen.
Danach sollte das Häuschen entrümpelt werden. Marko wollte es abreißen lassen, das große Grundstück verkaufen und mit dem Erlös die Hypothek für den Amselweg tilgen. Sie durchstöberten alles, um sicherzugehen, dass nicht in irgendeinem Kasten etwas von Wert lag. Die alte Frau hatte den Banken nicht getraut und ihr Geld zu Hause versteckt.
In einer Truhe mit verschlissener Bettwäsche fand Marko fast zehntausend Mark. Und Karen entdeckte in dem kleinen Gewölbekeller unter der Küche einen Schatz, der ihn aus der Fassung brachte. Eine Blechdose, in der wohl einmal Gebäck verwahrt worden war. Es klebten immer noch steinharte Krümel am Boden. Und zwischen den Krümeln lag ein silbernes Medaillon von der Größe eines Fünfmarkstücks. Auf der vorderen Deckplatte waren Ornamente, ein verschlungenes Blumenmuster, auf der Rückseite die Initialen M S eingraviert, Monika Stichler.
Das Medaillon hatte Markos Mutter gehört. Es enthielt eine Haarlocke und ein Foto von ihr, auf dem sie jedoch kaum zu erkennen war, weil sie auf einer Wiese lag. Das Foto war klein, das Gesicht nicht größer als ein Stecknadelkopf.
Marko hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten, und fluchte auf die Tante. «Dieses verrückte Weib. Du kannst dir nicht vorstellen, wie oft ich sie nach den Sachen meiner Mutter gefragt habe, Schatz. Wenigstens eine kleine Erinnerung hätte ich gerne gehabt. Und immer behauptete sie, sie habe damals einiges verkauft und das meiste weggeworfen. Und dabei lag das hier im Keller.»
Dann legte er ihr das Medaillon um den Hals. «Ich will, dass du es trägst, auch bei der Geburt. Sie hat es damals abgenommen. Das wirst du nicht tun, versprich mir das.» Sie versprach es und wollte weitersuchen, das Stöbern machte ihr Spaß. Aber er meinte, es sei zu kalt. «Du hast ja schon ganz steife Finger. Fahren wir lieber nach Hause, ehe du dir einen Schnupfen holst. Es eilt ja nicht hier.»
In den letzten Wochen vor der Geburt wich er ihr keinen Schritt mehr von der Seite. Er wollte dabei sein, wenn sein Sohn geboren wurde. Er suchte den Namen aus – Kevin – und die Einrichtung fürs Kinderzimmer – zweckmäßig, ohne Schnörkel, Seidenblumen oder Glaskugeln. Er begleitete sie zu den Arztterminen und stellte unendlich viele Fragen, weil doch bei Jasmin von einer Beckenanomalie die Rede gewesen war. Diesmal hieß es, es sei alles in Ordnung. Aber das war es nicht.
Kevin kam schon Ende Februar 1997, vier Wochen vor dem errechneten Termin zur Welt. Die Wehen begannen am frühen Abend, Marko fuhr sie ins Krankenhaus, stand ihr die ganze Nacht zur Seite, obwohl er kaum etwas tun konnte. Die Geburt zog sich endlos und sehr schmerzhaft in die Länge, weil sie es ablehnte, sich eine Anästhesie geben zu lassen. Bei Jasmin hatte sie nichts gespürt. Nun wollte sie fühlen, wie ein Mensch auf die Welt kam, wenn sie schon nicht wusste, wie es gewesen war, als ein Mensch durch ihre Schuld diese Welt verließ.
Schließlich reichte ihre Kraft nicht mehr für die Presswehen. Marko, der bis dahin ihre Hand gehalten, ihr gut zugeredet und den Schweiß von der Stirn gewischt hatte, wurde aus dem Geburtszimmer gewiesen. Für einen Kaiserschnitt war es viel zu spät. Der Arzt musste zur Saugglocke greifen.
Tagelang sah Kevins Kopf aus, als trüge er eine Zipfelmütze. Ein schönes Baby war ihr Sohn nicht. Nur Margo fand ihn hinreißend. Christa nannte ihn ein putziges Kerlchen, und wie sie das ausdrückte, klang es, als habe man nach all den Scherereien von ihr nichts Besseres erwarten dürfen. Norbert löste eine wahre Flut von Tränen aus mit dem saloppen Rat: «Jetzt kannst du endlich die Enten wegschmeißen. Wenn du ihn an den Teich legst, fällt er nicht auf, den hält garantiert jeder für einen Gartenzwerg.»
Sarah
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