Das letzte Opfer (German Edition)
Waldgebiete. Man hatte keine Vorstellung von all dem Grün, wenn man sich meist in einer Stadt aufhielt. Bei einem Einkaufsbummel mit Frau und Sohn entdeckte er eine riesige Landkarte. Sie nahm im Büro fast die gesamte Wand hinter dem Schreibtisch ein, sodass nicht er, sondern Wagenbach sie ständig im Blick hatte.
Er pinnte Fotos der Vermissten auf ihre Wohnorte, natürlich auch Aufnahmen von Anja Heckel, Elisabeth Brandow und Sabine Bergholt. Für die Prostituierte aus Frankfurt und die Cousine seiner Frau steckte er zusätzlich zwei Fähnchen in den Spessart, für Anja Heckel eines in die Eifel. Dann zog er mit einem Stift Kreise um die Wohnorte der Vermissten, sieben bis sechzig Kilometer.
Ein paar Mal spielte er mit dem Gedanken, Suchaktionen in den markierten Gebieten zu veranlassen. Aber er wollte den Bogen nicht überspannen. Es wäre ein ungeheurer Aufwand gewesen und die Aussichten sehr gering. Es war nicht auszuschließen, dass der Mörder seine Opfer Hunderte von Kilometern transportiert hatte. Eine Frau wie Julia Roberts, die der Erfüllung eines Traumes entgegensah, hätte nie Einwände gegen eine lange Autofahrt erhoben.
«Wahrscheinlich besucht er von Zeit zu Zeit die Gräber.» Der Satz von Kirby ging ihm immer wieder durch den Kopf. Er sah es auch so. Die alte Weisheit, dass es den Täter an den Tatort zurückzog, hatte nichts mit Sentimentalität zu tun. Manche drückten sich auch auf den Friedhöfen herum, wenn ihre Opfer beerdigt wurden. Das taten sie nicht aus Schuldbewusstsein oder gar Reue. Es ging immer nur um den Triumph, Herr über Leben und Tod und die Ohnmacht der Polizei.
Im Herbst 1999, als Karen sich darauf freute, nach langer Zeit endlich wieder eine richtige Rolle zu spielen, begann Scheib mit seinen «Familienausflügen» in den Spessart, weiß Gott nicht der Erholung willen. Mit Spaziergängen hatte es nichts gemein. Für ihn lief der neue Countdown, er wurde fast verrückt bei der Vorstellung eines dunkelhaarigen Mannes, der jetzt vielleicht auch durch ein Waldgebiet streifte, eine geeignete Grabstelle suchte und im September 2000 wieder eine Frau.
Fast jedes Wochenende waren sie unterwegs, wenn das Wetter mitspielte. Und er ärgerte sich, dass er damit nicht schon zwei Jahre früher begonnen hatte. Aber bis zu Waltraud Habels Verschwinden hatte er noch geglaubt, das Phantom über Kontaktanzeigen und einen Lockvogel fassen zu können.
In die Eifel zog es ihn nicht, nach siebzehn Jahren war die Fundstelle Heckel für das Phantom nicht mehr von Bedeutung, stellte vermutlich eine Niederlage dar, erinnerte den Mörder an seine anfängliche Unzulänglichkeit.
Dass auch der Spessart seinen Wert verloren haben könnte, weil es im hohen Norden ein frisches Grab mit Waltraud Habel gab, weil Sabine Bergholt und Elisabeth Brandow wie Anja Heckel nicht mehr an den Plätzen lagen, die der Mörder ihnen zugedacht hatte, war ihm sehr wohl bewusst. Aber nirgendwo war er dem Phantom so nahe wie in dem Waldstück. Und wenn er an seiner Stelle gewesen wäre, hätte er aus dem leeren Grab noch einen Triumph geschöpft. Ich bin der perfekte Mörder, auch nicht zu fassen, wenn ihr eine Leiche habt.
Bewaffnet mit einem Fotoapparat knipste er jeden Wanderer, ob allein oder in Begleitung, der mittelgroß, dunkelhaarig und in seinem Alter war. Wenn niemand unterwegs war, den er fotografieren und – nach Möglichkeit bis zu einem Auto – verfolgen konnte, zog es ihn an die Fundstelle Bergholt. Das Grab von Elisabeth ließ sich nach all den Jahren in dem unwegsamen Gebiet nicht mehr exakt lokalisieren. Oft blieb er länger als eine Stunde dort, lichtete jeden Zweig, jeden Grashalm, jedes Detail ab, das Auskunft geben konnte, ob jemand diese Stelle in der Zwischenzeit aufgesucht hatte. Es war mehr als Akribie, es war Obsession. Doch äußerlich wirkte er gelassen.
Seine Frau wusste nicht mehr, was in ihm vorging. Er zeigte immer dieselbe Ausgeglichenheit, eine Fassade, hinter der Wut und Besessenheit wuchern mussten wie Schimmel in einem alten Gemäuer. In den Nächten konnte er es nicht verbergen, wälzte sich herum, manchmal sprach er laut und verständlich. Er träumte sehr lebhaft von einem Verhör, legte seinem Spiegelbild die Fotos der Opfer vor, wartete auf eine Regung, ein Zeichen des Bedauerns, nur einen Hauch von Reue. Aber es kam nichts. Dann schlug er um sich und traf meist seine Frau.
Und manchmal bekam sie dann Angst um einen Unbekannten, den ein Zufall in die Schusslinie führen
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