Das letzte Opfer (German Edition)
plötzlich sagte: «Ich glaube, bei dir hat’s geklingelt.»
Es war kurz vor fünf. Sie ging ins Haus. Aus einem der Straßenfenster, wie Marko es tausendmal empfohlen hatte, schaute sie nicht. Hätte sie es getan, wäre ihr der Wagen im Wendehammer kaum entgangen, und vielleicht hätte sie nicht geöffnet. Aber sie hatte keinen Motor gehört und nahm an, es sei Christa.
Als sie das Wohnzimmer durchquerte, schlug der Türgong zum zweiten Mal. «Ich komme ja schon», rief sie, öffnete die Haustür. Draußen standen zwei Männer, einer in Jeans und Polohemd, mit langen Haaren. Das irritierte sie für einen Moment. Er grüßte höflich, nannte seinen Namen, zeigte ihr einen Ausweis und fragte etwas. Aber das hörte sie schon nicht mehr.
Folgenschwere Begegnungen
Es war nur ein unliebsamer Zwischenfall gewesen, eine Situation, die sich täglich und überall ergeben konnte. Ein wenig von dem Charme, auf den Margo Stichler setzte, wenn sie ihren Stiefsohn in eine Verhandlung schickte, und Thomas Scheib hätte den Namen Barbara Lohmann vermutlich nie gehört, nie ein Foto von ihr gesehen und nie erfahren von der jungen Frau, die am 14. September 1990 einen alten Mann getötet hatte.
Während Marko an dem Mittwochvormittag seine Reisetasche ausräumte und seinen Sohn beschäftigte, war in einer Münchner Polizeiwache eine Frau erschienen. Sie hieß Anni Weingräber, war siebenundsechzig Jahre alt, nahm aber noch rege am Straßenverkehr teil und kam mindestens zweimal in der Woche, um Anzeige zu erstatten, meist nur gegen Autofahrer, die sie auf der Straße bedrängt, beim Einparken behindert, durch Vogelzeigen oder gar obszöne Gesten beleidigt hatten. Anni hatte jedoch auch schon eine Nachbarin, die ihr bei einem Streit tüchtig Kontra gegeben und mit Erfolg eine Diät gemacht hatte, der Kindstötung bezichtigt. «Die hat’s heimlich bekommen und sofort umgebracht, ich hab’s schreien hören in der Nacht.»
Seit Ostern war Anni Weingräber in der Wache jedoch nicht mehr aufgetaucht, dort glaubte man schon, endlich einmal die richtigen Worte gefunden zu haben, um sich diese Plage vom Hals zu schaffen. Am Ostersonntag hatte Anni nämlich zur Abwechslung einen «Spanner» anzeigen wollen.
Sie war samstags mit ihrem Mann Hubert aufs Land gefahren, um einen langen Spaziergang zu machen. Auf dem Rückweg zum Auto war ihr zuerst ein roter Mercedes-Kombi aufgefallen, der verbotswidrig auf einem Waldweg parkte. Dann hatte der Fahrer sie nicht nur beobachtet, während sie ihre Notdurft in einem Gebüsch verrichtete, nein, er hatte sie dabei auch noch fotografiert und aufs Übelste beschimpft, als sie ihm das untersagte und ihn zur Herausgabe des Films aufforderte.
Kneifzange, hatte er sie genannt, und gefragt, ob sie kein Klo zu Hause hätte. Das sei doch eine elende Sauerei, sich in den Wald zu hocken. Und wenn sie nicht auf der Stelle ihre Klappe hielte, werde er sie anzeigen wegen Umweltverschmutzung und Erregung öffentlichen Ärgernisses.
Anni Weingräber präsentierte am Ostersonntag einen Zettel mit dem Kennzeichen des Mercedes-Kombi und geriet völlig außer sich, als der Wachbeamte sie abschmetterte mit dem Hinweis: Man müsse erst die Anzeige des Mannes abwarten. Der habe ja völlig Recht gehabt. Auf einem Waldweg zu parken, sei nur eine Ordnungswidrigkeit. Dagegen standen nun Annis Vergehen: Umweltverschmutzung und Erregung öffentlichen Ärgernisses, wenn nicht sogar Exhibitionismus. Wenn der Mercedes-Fahrer ein Foto als Beweis vorlege, könne man das besser beurteilen.
Tagelang ging Anni Weingräber ihrem Mann auf die Nerven mit ihrer Wut auf den Mercedes-Fahrer und die untätige Polizei. Und dann las sie an diesem Mittwoch in der Zeitung, dass Oliver Lohmann den Sohn eines bekannten Strafverteidigers des Mordes bezichtigte. Der Name Leitner war auch ihr ein Begriff. Nur eine halbe Stunde später betrat sie erneut die Polizeiwache und geriet wieder an den Beamten, der ihr am Ostersonntag eine Abfuhr erteilt hatte. Aber nun hatte Anni die Trümpfe, nämlich die Zeitung, in der Hand.
«Der Leitner-Bub war das nie und nimmer», erklärte sie nachdrücklich. «Der hat von klein auf gelernt, was Recht und Unrecht ist. Ich kann mir denken, wer die Frau auf dem Gewissen hat. Ich war ja Ostern schon mal hier wegen dem Verbrechen.»
Und dann behauptete Anni Weingräber, Barbara Lohmann habe am Ostersamstagabend in dem weinroten Mercedes-Kombi auf dem Waldweg gesessen. Sie lieferte eine Beschreibung des Fahrers,
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