Das letzte Opfer (German Edition)
vorsorglich zum Hausarzt geschickt hatte. Wütend war sie – inzwischen auf die gesamte Münchner Polizei. Sie durchbohrte Fährlich fast mit ihren Blicken.
«Einem kranken Mann so eine Angst zu machen. Gedroht hat er ihm, Ihr Kollege, dass ich mit Gefängnis bestraft werde, wenn rauskommt, dass ich was Falsches sage. Das hätte er wohl gerne. Aber in meinem Alter gibt es mildernde Umstände. Der Herr Doktor Leitner hat mir das genau erklärt. Und ich sag schon nichts Falsches.»
Natürlich tat sie das, und noch deutlicher hätte sie es Scheib gar nicht mitteilen können. Mildernde Umstände. Vermutlich hatte Leitner senior der «Entlastungszeugin» die Konsequenzen erklärt und seine Unterstützung zugesichert, falls der Deal aufflog. Die goldene Brücke, die Scheib ihr – noch im Glauben an eine Fahrt der kompletten Familie Stichler – baute, betrat Anni nicht. Es war die Frau aus der Zeitung gewesen und damit basta! Den leeren Kindersitz hatte sie zwar bemerkt, aber keine Frau mit einem kleinen Jungen.
«Mit seiner Frau hat er doch telefoniert, als wir vorbeigingen», erklärte sie. «Jedenfalls hat er Schatz gesagt und gejubelt, er hätte was geschafft. Und dann sagte er: ‹Gib mir Kevin nochmal, dann verschaffe ich dir einen ruhigen Abend.› Ich dachte, jetzt darf seine arme Frau ihr Kind ins Bett bringen und sich vor den Fernseher setzen, während er sich mit einer anderen amüsiert. Die lag ja schon hinten in seinem Auto.»
Bei Annis Erscheinen in der Polizeiwache am vergangenen Vormittag hatte Barbara Lohmann noch im Mercedes gesessen. Nun lag sie, und zwar mit geschlossenen Augen auf der Rückbank. Deshalb hatte Hubert sie wahrscheinlich nicht gesehen, er war ja außen vorbeigegangen. Voll Mitleid für die arme, betrogene Ehefrau hatte Anni den Kerl zur Rede gestellt. Und jetzt nicht mehr nur wegen des verbotswidrig auf dem Waldweg parkenden Autos, auch wegen Ehebruch. Da war er gleich frech geworden.
Und als Anni hundert Meter weiter in die Büsche gegangen war, stand er plötzlich hinter ihr – und hatte Blut an seinem Pullover, am linken Ärmel, an der Unterseite, das hatte Anni genau gesehen, weil er beide Arme hochhielt. Und wäre sie nicht so schnell aufgesprungen, hätte er sie vermutlich erschlagen mit seiner Kamera. Dann tat der Kerl so, als habe er sie nur fotografiert, um ihre Vergehen zu dokumentieren. Damit hatte er dann ja auch gedroht für den Fall, dass sie ihren Mund nicht hielt. Aber sie ließ sich von Verbrechern nicht einschüchtern.
«Blut am Ärmel?», fragte Scheib. «Und warum haben Sie das nicht sofort der Polizei gemeldet?»
«Wollte ich doch», sagte Anni. «Aber es hat mich keiner zu Wort kommen lassen. Wahrscheinlich war die Frau schon tot, als wir am Auto vorbeigingen. Gerührt hat sie sich ja nicht. Reden Sie mal mit dem Leitner-Bub. Der hat den Kerl ja auch mit ihr gesehen, um fünf Uhr auf dem Parkplatz bei der Raststätte. Da hatte er noch seine schwarze Jacke an. Abends lag die im Auto, damit war die Frau halb zugedeckt. Er hatte nur noch einen blauen Pullover an, hinten stand was drauf geschrieben, in weiß. Ich konnt’s nicht lesen, es war kein Deutsch.»
Den Leitner-Bub bekam Scheib tatsächlich unter vier Augen zu packen. Leitner senior war nicht im Haus. Fährlich beschäftigte Frau Leitner, damit ein ungestörtes Gespräch möglich wurde. Intime Details kamen nicht zur Sprache, auch sonst nichts von Bedeutung. In Widersprüche verwickelte Stefan Leitner sich nicht, weil er sich außerstande sah, noch einmal über den Ostersamstag zu sprechen. Er jammerte nur über die Trostlosigkeit seines Daseins ohne Barbara.
Als sie Leitners Haus verließen, war Scheib genauso fest überzeugt wie Weigler, dass er gerade mit Barbaras Mörder gesprochen hatte. Fährlich war angespannt, als sie zum Wagen gingen. Er begründete seine Nervosität mit dem Peugeot, der immer noch fünfzig Meter von der Grundstückszufahrt entfernt stand.
«Tagsüber treibt Lohmann sich in der Stadt herum», erklärte Fährlich. «Am Abend kommt er her, sitzt die ganze Nacht im Auto. Wir schicken regelmäßig eine Streife vorbei, aber es ist nicht verboten, hier zu parken. Wenn er Leitner zu Gesicht bekommt, fährt er ihn über den Haufen.»
Dass Oliver nicht der einzige Grund für Fährlichs Nervosität war, zeigte sich, als sie zurück ins Präsidium kamen. Weigler empfing sie mit einer Miene, als stehe ihm seine Suspendierung unmittelbar bevor. In der Zwischenzeit hatte Klinkhammer
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