Das Letzte Protokoll
sie auf der Treppe stolperte und sich ein Bein brach. Das Bein wurde mit einem schweren Gipsve r band ruhig gestellt, und die Frau musste lange Zeit das Bett hüten. Zur Untätigkeit ve r dammt, fing sie an zu m a len.
Genau wie Misty, aber nicht Misty. Ein Misty-Imitat.
Dann ertrinkt ihr zehnjähriger Sohn.
Nach hundert Bildern schienen ihr das Talent und die Inspirat i on auszugehen. Ihre Ideen versiegten.
Ihre Handschrift, weit auseinander gezogen: Angel Delaporte würde sagen, sie war eine großzügige, war m herzige Frau.
Auf der Kunstakademie erfährst du nicht, dass Grace Wilmot ständig hinter dir herläuft und alles aufschreibt, was du tust. Dein ganzes Leben in einen schlechten R o man verwandelt. Aber so ist es. Grace Wilmot schreibt einen Roman, dem Mistys Leben zu Grunde liegt. O ja, sie hat ein paar Sachen geändert. Sie hat der Frau drei Kinder gegeben. Bei Grace ist sie Zimmermädchen, nicht Kelln e rin. O ja, alles rein zufällig.
Nur um das festzuhalten: Misty sitzt in Harrows altem Buick in der Warteschlange vor der Fähre, als sie diesen Mist liest.
In dem Buch steht, dass die meisten Einwohner ins Hotel W a ytansea gezogen sind und es zu einer Kaserne gemacht h a ben. Zu einem Flüchtlingslager für Inselfamilien. Die Hylands m a chen für alle die Wäsche. Die Burtons kochen. Die Petersens pu t zen.
In dem ganzen Zeug scheint kein einziger origineller Gedanke zu stecken.
Es reicht wahrscheinlich schon, dass Misty diesen Mist liest, damit er wahr wird. Damit die Prophezeiung sich erfüllt.
Sie wird sich in jemandes Vorstellung davon hineinl e ben, wie ihr Leben zu verlaufen habe. Aber sie kann ei n fach nicht zu lesen au f hören.
In Grace' Roman findet die Erzählerin ein Tagebuch. Dieses T a gebuch scheint ihr eigenes Leben zu beschreiben. Sie liest, dass ihre Bilder in einer großen Ausstellung g e zeigt werden sollen. Am Abend der Vernissage drängen sich die Sommertouristen im H o tel.
Nur um das festzuhalten, lieber geliebter Peter: Falls du aus deinem Koma erwachen solltest, könnte das hier dich gleich wieder hineinstürzen. Die schlichte Tatsache ist die, dass Grace, deine Mutter, über deine Frau schreibt und sie als versoffene Schlampe hinstellt.
So muss sich Judy Garland gefühlt haben, als sie Das Tal der Puppen gelesen hat.
Misty wartet hier am Fährenanleger, weil sie aufs Fes t land will. Sie sitzt in dem Auto, in dem Peter beinahe gestorben ist bezi e hungsweise mit dem er ihr beinahe durchgebrannt ist, und vor und hinter ihr warten schwi t zende Sommerleute. Ihr Koffer liegt gepackt im Kofferraum. Das weiße Satinkleid ist auch d a bei.
Genau wie dein Koffer im Kofferraum gelegen hat.
Damit endet das Tagebuch. Der letzte Eintrag endet kurz vor der Kunstausstellung. Danach . .. kommt nichts mehr.
Nur damit du dich nicht so schlecht zu fühlen brauchst: Misty verlässt ihr Kind genau so, wie du sie beide verla s sen wolltest. Du bist noch immer mit einem Feigling ve r heiratet. So wie sie schon weglaufen wollte, als sie dachte, die Bronzestatue würde Tabbi töten - den einzigen Menschen auf der Insel, der Misty nicht scheißegal ist. Nicht Grace. Nicht die Sommerleute. Hier ist niemand, den Misty retten müsste.
Außer Tabbi.
26. August
Nur um das festzuhalten: Du bist immer noch ein erbär m licher Feigling. Ein egoistischer, vertrottelter, fauler, rückgratloser Mistkerl. Ja, sicher, du wolltest deine Frau retten, aber du wol l test sie auch verlassen. Du schwachsinniges, hirngeschädigtes Arschloch. Lieber geliebter Dummkopf.
Aber jetzt weiß Misty genau, wie du dich gefühlt hast.
Heute ist dein 157. Tag im Koma. Und ihr erster.
Heute fährt Misty die drei Stunden, um dich zu sehen und n e ben deinem Bett zu sitzen.
Nur um das festzuhalten, Misty fragt dich: »Darf man Fremde töten, um die Lebensgewohnheiten von Menschen zu bewa h ren, nur weil man diese Menschen liebt?«
Na ja, von denen man gedacht hat, dass man sie liebt.
Jahr für Jahr, jeden Sommer kommen mehr Leute auf die I n sel, und man sieht immer mehr Müll herumfliegen. Das Trin k wasser wird immer knapper. Aber natürlich darf man das Wachstum nicht behindern. Das ist antiamerikanisch. Egoistisch. Tyra n nisch. Böse. Jedes Kind hat das Recht zu leben. J e der Mensch hat das Recht, dort zu leben, wo er es sich leisten kann. Wir haben ein Anrecht darauf, dem Glück nachzujagen, wo immer wir hi n fahren, hinfliegen, hinsegeln können, um es zur Strecke zu bri n gen. Wenn zu viele Leute
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