Das letzte Riff
Buchstaben waren so groß, daß er den Text leicht lesen konnte.
Sein Herz schlug heftiger, als er ein Lesezeichen zwischen zwei Seiten fand. Er hielt es nahe ans Fenster, um es bei diesem grauen Tageslicht entziffern zu können. Die Worte klangen wie ihre eigenen, ein Trost bei Abschied, Trennung und Alter:
Er ist der Stern für jede arme Barke des Höhe ihr wohl meßt, doch nicht den Wert.
Bolitho las weiter und empfand es wie eine Bestätigung:
Und Lieb’ ist nimmermehr ein Narr der Zeit. Droht ros’gen Wangen selbst der Sichelschlag, Lieb’ wechselt nicht mit Stund’ und Woche …
Er hörte nicht die Kommandos an Deck, nicht das Kreischen der Blöcke und spürte auch das Rucken nicht, das vom Ankerspill durch das ganze Schiff lief. Versonnen trat er an die Heckfenster und öffnete eins; sofort waren Gesicht und Brust naß von Regen und Gischt Über das unruhige Wasser rief er laut ihren Namen und glaubte, sie weinen zu hören.
Verlaß mich nicht!
Böses Blut
Ozzard wartete, bis das Deck sich wieder aufrichtete, ehe er seinem Vizeadmiral frischen Kaffee in die Tasse goß. Auch am sechsten Tag seit Spithead ließ das schlechte Wetter, das sie Meile für Meile verfolgt hatte, nicht nach. Wie erwartet, kam es auch immer wieder zu Unfällen – und Schlimmerem.
Im heulenden Sturm war mitten in der Nacht ein Mann von einem Brecher über Bord gerissen worden; seine Schreie hatte niemand gehört. Andere brachen sich an Deck die Knochen oder zerrissen sich die Hände. Schließlich hatte sich Coutts, der Schiffsarzt, persönlich an Keen gewandt: Er möge doch bitte reffen und den Sturm abreiten.
Doch unabhängig vom Wetter ging der Drill Tag für Tag weiter. Die Besatzung wetteiferte: Welche Gang war die schnellste beim Reffen und Ausschütteln der Segel? Das Aufriggen von Schutznetzen über dem oberen Batteriedeck war den Leuten schließlich so in Fleisch und Blut übergegangen, daß sie es auch in tiefster Dunkelheit beherrschten. So waren die Stückmannschaften der achtunddreißig Zwölfpfünder auf diesem Deck geschützt vor fallenden Spieren und herabstürzenden Riggteilen, falls es zum Kampf kommen sollte.
In allen Decks lebten die Leute in diesen Tagen nur hinter geschlossenen Stückpforten: die Mannschaften der großkalibrigen Karronaden, der schweren Zweiunddreißigpfünder und der langen Neuner. Die geschlossenen Pforten schützten sie vor den vorbeirauschenden Seen, die noch gewaltige Gischtfahnen über das Oberdeck jagten.
Keen konnte sich ganz auf seine Offiziere verlassen und auf die Spezialisten, die das Rückgrat jeder Besatzung bildeten. Dieses Vertrauen zeigte er auch in Fragen der Disziplin. In einer Mannschaft, die so neu zusammengewürfelt war und in der die meisten keine Erfahrung besaßen, explodierten manchmal die Temperamente, flogen die Fäuste. Das führte unweigerlich zu harten Strafen. Dann riß die Peitsche den Rücken eines Delinquenten in Streifen, während der Regen das Blut von den Grätings wusch und der Trommelbube zu jedem Hieb seine Wirbel schlug.
Besser als jeder andere wußte Bolitho, wie sehr Keen das Auspeitschen haßte. Aber die Disziplin mußte eingehalten werden, ganz besonders auf einem Schiff, das ganz allein segelte und jeden Tag weiter in den leeren Atlantik vordrang.
Ebenso konsequent war Keen mit den Midshipmen und seinen Offizieren. Die Leutnants nahm er zur Seite, wenn ihm etwas mißfallen hatte, und sprach mit ihnen beherrscht und ruhig. Wenn sie dann so dumm waren, seinen Rat zu mißachten, klang das zweite Gespräch schon anders. John Cross, der Sechste Offizier, der in Portsmouth die Barkasse kommandiert hatte, war so ein Unglücksrabe. Er gab sich größte Mühe, bewies aber bei den meisten Aufgaben eine derartige Unkenntnis, daß sogar die geduldigsten Decksoffiziere stöhnten.
Allday sagte schlicht: »Irgendwann bringt der noch einen von uns um. Man hätte ihn gleich bei seiner Geburt erdrosseln sollen.«
Die meisten Midshipmen stammten aus Familien mit langer Marinetradition. Auf einem Flaggschiff unter einem so berühmten – oder, wie manche meinten, berüchtigten – Admiral zu dienen, bot eine Chance, schnell befördert und ausgezeichnet zu werden. Selbst nach so vielen Jahren mit Siegen und Niederlagen, mit blutigen Schlachten und eintönigem Blockadedienst glaubten immer noch viele, der Krieg würde bald enden – vor allem jetzt, da englische Soldaten im Feindesland standen. Junge Offiziere, die auf die Marine gesetzt hatten, glaubten
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