Das Letzte Ritual
aber am auffälligsten waren seine ausgeprägten Wangenknochen. Der Junge war insgesamt eher schmächtig. Wenn er Haralds Mörder ist, muss er sich ganz schön angestrengt haben, dachte Dóra. Er sah zumindest nicht so aus, als sei er in der Lage, eine 85 Kilo schwere Leiche weit zu schleppen.
»Du wirst dich doch anständig benehmen, mein Junge?«, fragte der Wärter Hugi freundschaftlich. Hugi nickte schweigend und der Wärter umfasste seine Handgelenke und löste die Handschellen. Dann legte er wieder seine Hand auf Hugis Schulter und führte ihn zu dem Stuhl gegenüber von Dóra und Matthias. Hugi vermied es, die beiden anzuschauen. Er wendete den Kopf ab und starrte auf den Fußboden neben seinem Stuhl, auf dem er mehr hing als saß.
»Wir sind im Nachbarzimmer, falls ihr uns braucht. Er sollte keine Probleme machen.« Der Wärter richtete seine Worte an Dóra.
»In Ordnung«, entgegnete sie. »Wir halten ihn nicht länger auf als nötig.« Dóra schaute auf ihre Armbanduhr. »Es wird bestimmt nicht länger als bis zum Mittag dauern.«
Der Wächter ließ sie allein. Als er die Tür hinter sich zugezogen hatte, war außer dem Atmen der drei Anwesenden nur noch ein leises Geräusch zu hören – Hugi kratzte sich rhythmisch am Knie, das in einer Armeehose steckte. Die Gefangenen durften hier offenbar ihre eigene Kleidung tragen – anders als in amerikanischen Gefängnissen, wie sie Dóra aus dem Fernsehen und Kino kannte. Der Junge schaute sie nicht an.
»Hugi«, sagte Dóra so einfühlsam wie möglich. Sie sprach weiter Isländisch, denn es kam ihr komisch vor, das Gespräch auf Englisch zu beginnen. Es würde sich noch herausstellen, ob das überhaupt möglich war. Sie durften sich jetzt aufgrund von lästigen Sprachbarrieren nichts vermasseln; wenn der Junge nicht genug Englisch verstand, müsste Dóra das Gespräch wohl oder übel allein führen. »Du weißt vermutlich, wer wir sind. Ich heiße Dóra Guðmundsdóttir und bin Rechtsanwältin und das ist Matthias Reich aus Deutschland. Wir sind wegen des Mordes an Harald Guntlieb hier und stellen unabhängig von der Polizei Nachforschungen an.«
Keine Reaktion. Dóra redete weiter. »Wir wollten dich treffen, da wir nicht glauben, dass du etwas mit dem Mord zu tun hast.« Sie holte tief Luft, um die folgenden Worte zu unterstreichen. »Wir sind auf der Suche nach Haralds Mörder und halten es für sehr wahrscheinlich, dass du nicht der Schuldige bist. Unser Ziel ist es, denjenigen zu finden, der Harald umgebracht hat, und falls du es nicht warst, wäre es vorteilhaft für dich, uns zu helfen.«
Hugi hob den Kopf und schaute Dóra an. Er öffnete jedoch weder den Mund, noch machte er irgendwelche Anstalten, sich zu äußern, daher sprach Dóra weiter. »Verstehst du das? Wenn es uns gelingen sollte zu beweisen, dass ein anderer Harald ermordet hat, dann bist du in den wesentlichen Punkten von der Anklage befreit.«
»Ich hab ihn nicht umgebracht«, sagte Hugi leise. »Mir glaubt keiner, aber ich hab ihn nicht umgebracht.«
Dóra fuhr fort. »Hugi, Matthias kommt aus Deutschland und hat Erfahrung mit solchen Ermittlungen, aber er spricht kein Isländisch. Traust du dir zu, mit uns Englisch zu sprechen, damit er uns verstehen kann? Wenn nicht, ist das kein Problem. Wir möchten, dass du unsere Fragen verstehst und … –«
»Ich kann Englisch«, war die fast geflüsterte Antwort.
»Gut«, sagte Dóra. »Wenn du etwas nicht verstehst oder Schwierigkeiten mit den Antworten hast, dann wechseln wir einfach wieder ins Isländische.«
Dóra wendete sich an Matthias und teilte ihm mit, sie könnten auf Englisch weitermachen. Matthias ließ sich das nicht zweimal sagen, beugte sich vor und eröffnete das Gespräch. »Hugi, jetzt setz dich erst mal gerade hin und dreh dich zu uns. Lass diesen Jammerton und reiß dich zusammen, zumindest solange wir hier sind.«
Dóra stöhnte innerlich; was sollte dieses Machogehabe? Sie würde sich nicht wundern, wenn Hugi aufstünde, in Tränen ausbräche und sofort gehen wollte, und dann müssten sie sich damit abfinden, denn er war schließlich aus freiem Willen hier. Dóra hatte keine Möglichkeit einzugreifen, denn Matthias redete unaufhörlich weiter. »Du bist in einer ziemlich miesen Lage, das muss ich dir ja nicht lang und breit erklären. Wir sind im Grunde deine einzige Hoffnung, aus dieser Sache rauszukommen, daher solltest du alles dafür tun, uns zu helfen und uns ehrlich antworten. In deiner Situation versinkt
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