Das Letzte Ritual
erklärte Gunnar zögernd.
»Hier? In Haralds Wohnung?«, fragte Dóra verwundert.
»Selbstverständlich habe ich nicht damit gerechnet, ihn persönlich anzutreffen«, beeilte sich Gunnar klarzustellen. »Ich meine, es könnte ja jemand da sein, der Hausmeister oder so.«
Matthias verstand kein Wort und überließ Dóra die Gesprächsführung. Er hatte den Namen des Mannes sofort erkannt. Er schlüpfte an Dóra vorbei und gab ihr mit allen möglichen Zeichen zu verstehen, sie solle den Mann hineinbitten. Dann kramte er die Schlüssel aus seiner Tasche und schloss die Eingangstür auf.
Gunnar beobachtete Matthias dabei und wirkte ganz aufgeregt. »Habt ihr Zugang zu der Wohnung?«, fragte er Dóra.
»Ja, Matthias arbeitet für Haralds Familie und ich bin ebenfalls deren Bevollmächtigte. Wir haben heute bei der Polizei ein paar von Haralds Sachen abgeholt und möchten sie zurückbringen. Darf ich dich hineinbitten? Wäre schön, wenn wir uns kurz mit dir unterhalten könnten.«
Gunnar war sehr bemüht, seine Freude zu überspielen. Er nahm dankend an, schaute aber erst auf seine Armbanduhr und tat so, als rechne er aus, ob er genug Zeit habe. Dann folgte er Dóra ins Haus. Trotz seiner feinen Aufmachung schien er kein großer Kavalier zu sein – zumindest bot er ihr keine Hilfe beim Schleppen des schweren Bildschirms in den ersten Stock an.
Gunnar reagierte ähnlich wie Dóra, als sie die Wohnung zum ersten Mal betreten hatte. Er kam noch nicht mal dazu, seine Jacke aufzuhängen, sondern ging wie hypnotisiert ins Wohnzimmer und begutachtete die Gegenstände an den Wänden. Matthias und Dóra ließen sich Zeit und stellten die schweren Lasten ab. Matthias holte das Lederfutteral mit den alten Briefen aus dem Karton, wickelte es aus der Jacke und ging damit in Richtung Schlafzimmer. Dóra blieb zurück, um Gunnar im Auge zu behalten.
»Eine bemerkenswerte Gemäldesammlung«, stellte Dóra fest. Sie rief sich ins Gedächtnis, was Matthias ihr über die Bilder erzählt hatte, traute sich aber nicht zu, es richtig wiederzugeben. Daher beschloss sie, lieber nicht mit ihrem Wissen zu prahlen.
»Woher hatte er diese Bilder?«, fragte Gunnar. »Hat er sie gestohlen?«
Dóra war sprachlos. Wie kam der Mann auf diese Idee? »Nein. Er hat sie von seinem Großvater geerbt.« Sie zögerte, sprach dann aber weiter. »Hast du dich mit Harald nicht gut verstanden?«
Gunnar zuckte zusammen. »Nein, guter Gott. Ich habe mich ausgezeichnet mit ihm verstanden.« Seine Stimme klang nicht sehr überzeugend, was Gunnar wohl bemerkt hatte. Augenblicklich versuchte er, diesen Eindruck zu widerlegen. »Harald war ein außerordentlich begabter junger Mann und hat in seinem Geschichtsstudium gute Leistungen gezeigt. Seine Arbeitsweise war absolut vorbildlich, was heutzutage leider nicht mehr selbstverständlich ist.«
Dóra war immer noch nicht überzeugt. »Er war also ein vorbildlicher Student?«
Gunnar lächelte gezwungen. »Das könnte man sagen. Sein Äußeres und sein Verhalten waren natürlich ungewöhnlich, aber man sollte die Mode der jungen Leute nicht verurteilen. Ich kann mich gut an die Beatles und die von ihnen ausgelöste Modewelle erinnern. Die Älteren waren damals davon auch nicht besonders angetan. Ich bin alt genug, um zu wissen, dass jugendlicher Leichtsinn alle möglichen Formen annehmen kann.«
Es war wirklich weit hergeholt, Harald mit den Beatles zu vergleichen. »So habe ich das nicht gemeint.« Dóra schenkte Gunnar ein wohlwollendes Lächeln. »Ich kannte ihn natürlich nicht.«
»Du sagtest, du bist Rechtsanwältin; womit hat Haralds Familie dich denn beauftragt? Geht es um Erbschaftsangelegenheiten? Das, was hier an der Wand hängt, ist ziemlich wertvoll.«
»Nein, damit hat es nichts tun«, erklärte Dóra. »Wir gehen noch einmal die Mordermittlungen durch – die Familie ist mit der polizeilichen Schlussfolgerung nicht einverstanden.«
Gunnar starrte sie mit großen Augen an. Sein Adamsapfel hüpfte auf und ab. »Was meinst du damit? Hat man den Schuldigen denn nicht gefunden – diesen Drogendealer?«
Dóra zuckte die Achseln. »Unserer Meinung nach weist einiges darauf hin, dass er nicht der Mörder ist.« Gunnar schien aus unerfindlichen Gründen nicht besonders froh zu sein, diese Neuigkeit zu hören. Sie fügte hinzu: »Es wird sich alles herausstellen. Vielleicht haben wir Unrecht – vielleicht auch nicht.«
»Es geht mich vielleicht nichts an, aber was deutet denn auf die Unschuld des
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