Das Letzte Ritual
Hexenverbrennungen in Island erst im 17. Jahrhundert stattfanden?«
»Ja. Quellen berichten auch von Leuten, die schon vor dieser Zeit der Hexerei bezichtigt wurden, aber die eigentliche Hexenverfolgung begann erst im 17. Jahrhundert. Die erste Verbrennung, von der wir wissen, fand im Jahr 1625 statt.«
»Ja, das dachte ich mir«, sagte Matthias und wirkte irritiert. Er breitete die Papiere auf dem Tisch aus. »Es gibt merkwürdigerweise nur sehr wenig über isländische Hexenverbrennungen in Haralds Unterlagen und ich verstehe nicht, warum er sich so stark für Ereignisse interessierte, die viel früher stattfanden. Möglicherweise können Sie mich aufklären und einen historischen Zusammenhang herstellen, der uns verborgen ist.«
»Welche Ereignisse meinen Sie?«, fragte Gunnar und beugte sich über die Papiere, die aus ausgedruckten und kopierten Aufsätzen bestanden.
Während Gunnar die Aufsätze beäugte, zählte Matthias auf: »Ausbruch der Hekla im Jahr 1510, Epidemie in Dänemark um die Jahrhundertwende 1500, Reformation im Jahr 1550, Höhlen der Papar seit der Besiedelung des Landes und so weiter. Ich für meinen Teil sehe keinen direkten Zusammenhang, aber ich bin ja auch kein Historiker.«
Gunnar blätterte weiter in den Papieren. Schließlich ergriff er das Wort. »Dies steht wirklich nicht alles in direktem Zusammenhang mit Haralds Arbeit. Er könnte sich diese Aufsätze auch für andere Seminare beschafft haben, an denen er teilnahm. Die Landnahme ist mein Fachgebiet und ich muss gestehen, dass Harald mein Seminar nicht besucht hat, was eine Erklärung für diesen Artikel über die Papar gewesen wäre. Trotzdem glaube ich, diese Unterlagen stammen aus Kursen, in die er sich parallel zu seiner Abschlussarbeit eingeschrieben hatte.«
Matthias schaute Gunnar durchdringend an. »Nein, so einfach ist es nicht. Die meisten dieser Aufsätze befanden sich in einem Ordner mit der Aufschrift Malleus – Ihnen ist der Name vermutlich bekannt.« Matthias zeigte auf die Löcher an den Seitenrändern. »Ich glaube, er hat sie im Zusammenhang mit Forschungen auf dem Gebiet der Hexerei gesammelt.«
»Ja, ich kenne den Begriff – könnte er die Aufsätze nicht einfach in einen alten Ordner geheftet haben, ohne die Aufschrift zu ändern?«, fragte Gunnar.
»Gut möglich«, entgegnete Matthias. »Aber mein Gefühl sagt mir, dass es nicht so war.«
Gunnar schaute wieder auf den Papierstapel. »Das ist zugegebenermaßen nicht so einfach. Das Einzige, was mir auf Anhieb auffällt, ist die Verbindung zur Reformation – sie ging der Inquisition auf gewisse Weise voraus, so wie im übrigen Europa auch. Die Religion veränderte sich und viele Menschen wurden durch diese Entwicklung von einer Glaubenskrise erfasst. Was den Ausbruch der Hekla und die Epidemie angeht, könnte Harald die Verbindung zwischen der Inquisition und den wirtschaftlichen Verhältnissen untersucht haben. Naturkatastrophen und Krankheiten hatten zu jener Zeit einen immensen Einfluss. Obwohl andere Vulkanausbrüche, beispielsweise der Heklaausbruch von 1663, und andere Seuchen, die zeitlich näher an den Hexenverbrennungen liegen, sich für eine genauere Untersuchung besser geeignet hätten.« Er tippte leicht auf den Stapel.
»Er hat also nicht mit Ihnen oder mit diesem þórbjörn darüber geredet, als Sie sich wegen der Abschlussarbeit getroffen haben?«, fragte Dóra.
»Nein, mit mir nicht. þórbjörn erwähnte so etwas nach seinem Treffen mit Harald auch nicht«, antwortete Gunnar, fügte dann aber hinzu: »Wie ich schon sagte, befand sich Haralds Abschlussthema noch im Entwicklungsstadium. Seine Interessen schienen in unterschiedliche Richtungen zu gehen. Er gab þórbjörn sogar zu verstehen, dass er sich mehr für den Einfluss der Reformation als für Hexenverbrennungen interessierte. Als er ermordet wurde, hatte er sein Thema aber noch nicht geändert.«
»Ist das üblich?«, fragte Dóra. »Seine Forschungsthemen derart zu ändern?«
Gunnar nickte. »Ja, das ist weit verbreitet. Man fängt voller Eifer an, merkt dann, dass das Thema gar nicht so spannend ist, wie man zunächst gedacht hat, und beginnt nach neuen Themenbereichen zu suchen. Wir haben sogar eine lange Liste mit interessanten Forschungsthemen, die wir unseren Studenten zur Auswahl vorlegen, wenn sie keine eigenen Vorschläge haben.«
»In Anbetracht von Haralds Interesse an Hexerei im Allgemeinen«, sagte Matthias und zeigte auf die sie umgebenden Wände, »ein
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