Das letzte Theorem
was du benötigst.«
Um nach Trincomalee zu gelangen, blieb Ranjit nichts anderes übrig, als per Anhalter in einem LKW mitzufahren; in dem Wagen roch es nach dem Currygericht, das der Fahrer als Proviant bei sich hatte, außerdem verströmte die Zimtrinde, die er als Fracht geladen hatte, einen aromatischen Duft. Kurz nach Mitternacht traf er dann am Tempel ein. Sein Vater hatte sich natürlich längst schlafen gelegt, und der diensthabende Priester erbot sich nicht, ihn zu wecken. Allerdings versorgte er Ranjit mit allem, worum dieser ihn bat; er wies ihm eine Zelle mit einem Bett zu, gewährte ihm drei einfache (aber ausreichende)
Mahlzeiten pro Tag - und Zugang zu den Archiven des Tempels.
Die dort aufbewahrten Werke waren nicht etwa auf uraltem Pergament oder Tierhäute geschrieben, wie Ranjit befürchtet hatte; in diesem Tempel hatte sein Vater das Sagen, und das Archiv war nach den modernsten Gesichtspunkten ausgestattet und befand sich auf dem neuesten Stand der Technik. Als Ranjit am anderen Morgen aufwachte, entdeckte er auf dem Tisch neben seiner Pritsche einen Laptop, und darüber erhielt er Zugriff auf die gesamte Geschichte Sri Lankas, beginnend bei den in Stämmen lebenden Weddas, den Ureinwohnern der Insel, bis hin zur Gegenwart.
Er erfuhr vieles, was Dr. Mendis im Unterricht nicht einmal gestreift hatte, aber Ranjit hatte sein Lehrbuch mitgebracht - nicht zum Studieren, sondern um einen Leitfaden zu haben, welche historischen Phasen Sri Lankas er getrost ignorieren durfte. Ihm blieben fünf Tage Zeit, bis er zur Universität zurückkehren musste. Aber fünf Tage intensiver Beschäftigung mit einem einzigen Thema reichten für einen jungen Mann, der so aufgeweckt und motiviert war wie Ranjit Subramanian, völlig aus, um den Stoff zu beherrschen. (Er verzettelte sich auch nicht durch Multitasking. Offenbar war an der Theorie über das GSSM-Syndrom doch etwas dran.) Außerdem hatte er eine Menge Dinge gelernt, die in der Klausur nicht vorkamen. Er erfuhr, welche Berge von Perlen, Gold und Elfenbein die Portugiesen aus dem Tempel seines Vaters stahlen, ehe sie das Bauwerk zerstörten. Er las, dass die Tamilen einmal während einer Dauer von fünfzig Jahren über die ganze Insel herrschten - und dass der General, der schließlich die tamilischen Streitkräfte bezwungen und sein eigenes Volk »befreit« hatte, von den modernen Singhalesen offenbar immer noch verehrt wurde - sogar von Gaminis Familie, denn dessen Vater, Dhatusena Bandara, war nach ihm benannt.
Nachdem der Van des Tempels ihn an der Universität abgesetzt hatte, steuerte Ranjit schnurstracks auf Gaminis Zimmer
zu. Vor sich hin grinsend klopfte er an die Tür und freute sich schon darauf, ihm von seiner Entdeckung zu erzählen.
Dazu kam er gar nicht, denn Gamini war nicht da.
Ranjit weckte den Pförtner, der bei Nacht Dienst hatte, und verschlafen teilte der Mann ihm mit, Mr. Bandara hätte die Universität vor zwei Tagen verlassen. Ob er zu seiner Familie gefahren sei, die im Stadtteil Fort ein Haus hatte? Nein, keineswegs. Mr. Bandara sei nach England abgereist, um dort sein Studium zu vollenden.
Als Ranjit endlich in sein eigenes Zimmer zurückkehrte, lag dort ein Brief von Gamini. Doch in dem Schreiben stand nur, was Ranjit bereits wusste. Gaminis Flug nach England war um ein paar Tage vorverlegt worden, und er würde mit einer früheren Maschine fliegen. Und er würde Ranjit vermissen.
Das war jedoch nicht die einzige Enttäuschung, mit der Ranjit fertigwerden musste. Dass das Tempelpersonal seinen Vater nicht geweckt hatte, als er so spät nachts eintraf, hatte er natürlich eingesehen. Aber dass sein Vater während der fünf Tage, die Ranjit im Tempel weilte, nicht ein einziges Mal nach ihm gesehen hatte, machte ihm schwer zu schaffen.
Das Ganze entbehrte nicht einer gewissen Komik, sagte sich Ranjit, als er die Lampe neben seinem Bett ausknipste. Sein Vater hatte ihm nicht verziehen, dass er Gamini Bandara so nahestand. Und nun war Gamini neuntausend Kilometer von ihm entfernt.
Er hatte die beiden Menschen, die er in seinem Leben am meisten liebte, verloren; was sollte er mit diesem Leben jetzt anfangen?
Zu dieser Zeit fand ein weiteres bedeutendes Ereignis statt, doch weder Ranjit noch irgendein anderes menschliches Wesen sollten davon erfahren. Es passierte viele Lichtjahre entfernt in der Nachbarschaft eines Sterns, von dem die Astronomen auf der Erde nur die Rektaszension und die Deklinationswerte kannten. Eine der
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