Das letzte Theorem
Rupfensack abquälte. »Hallo«, begrüßte Ranjit den Trupp. »Ich bin Ranjit Subramanian, Ganesh Subramanians Sohn. Mein Vater hat mich gebeten, euch ein paar Lebensmittel zu bringen. Sie sind drinnen auf dem Tisch. Sie müssen Mrs. Kanakaratnam sein.«
Die Frau widersprach ihm nicht. Sie ließ den Griff des Karrens fallen und warf einen Blick auf den schlummernden Passagier, um sich zu vergewissern, dass die Kleine noch schlief. Dann streckte sie Ranjit ihre Hand entgegen. »Richtig, ich bin Kanakaratnams Frau«, bestätigte sie. »Vielen Dank. Ihr Vater war sehr gut zu uns. Darf ich Ihnen einen Schluck Wasser anbieten? Eis haben wir nicht, aber wenn Sie das ganze Zeug hierhergebracht haben, müssen Sie durstig sein.«
Das stimmte, und dankbar nahm er das Glas entgegen, in das sie Wasser aus einem der Kanister gefüllt hatte. Sie erzählte ihm, sie bezögen ihr gesamtes Trinkwasser von außerhalb. Der Tsunami, der am zweiten Weihnachtstag 2004 über Sri Lanka hereingebrochen war, hatte ihren Brunnen mit salzigem Meerwasser überflutet. Die Katastrophe lag schon eine ganze Weile
zurück, aber das Brunnenwasser war auch jetzt noch verunreinigt. Man konnte es zum Wäschewaschen und zum Kochen von bestimmten Gerichten benutzen, aber nicht trinken.
Während Mrs. Kanakratnam redete, versuchte Ranjit, sich ein ungefähres Bild von ihr zu machen. Er schätzte sie auf Mitte dreißig, sie wirkte robust, war gar nicht mal unattraktiv und auch nicht dumm, doch sie hegte einen tiefen Groll gegen eine Welt, die sich gegen sie verschworen hatte. Im Übrigen wollte sie nicht mit Mrs. Kanakaratnam angeredet werden. Sie erklärte, sie und ihr Mann hätten beide keine große Lust gehabt, in diesem langweiligen tropischen Flecken zu versauern, der Sri Lanka hieß. Sie wollten irgendwo leben, wo etwas los war - zum Beispiel in Amerika. Aber dann mussten sie sich mit einem anderen Land zufrieden geben, denn die amerikanische Botschaft verweigerte ihnen die Visa. Schließlich wanderten sie in ein völlig anderes Land aus - nach Polen -, aber dort hatte es mit dem Sesshaftwerden auch nicht geklappt. »Also beschlossen wir, das Beste aus unserer Situation zu machen«, fuhr sie in einem beinahe trotzigen Ton fort. »Wir nahmen amerikanische Namen an. Ich durfte ihn nicht mehr Kirthis nennen. Er hieß nun George, und ich war Dorothy. Abgekürzt Dot.«
»Ein schöner Name«, sagte Ranjit. Der Name sagte ihm gar nichts, er hatte überhaupt keine Einstellung dazu, aber er wollte etwas Nettes äußern, um ihre aggressive Stimmung ein bisschen zu besänftigen.
Anscheinend gelang ihm das sogar, denn nun wurde sie richtig gesprächig und geriet ins Plaudern. Sie erzählte, sie hätten dann auch ihren Kindern, die sich nach und nach einstellten, amerikanische Namen gegeben. Offenbar hatte Dot Kanakaratnam viermal hintereinander in jedem Jahr mit gerader Zahl ein Baby zur Welt gebracht. Zuerst Tiffany, die mit elf das älteste Kind war, dann den einzigen Jungen, Harold, jetzt neun, dann Rosie und Betsy, sieben und fünf Jahre alt. Wie beiläufig erwähnte sie, ihr Mann sitze zurzeit im Gefängnis; sie
tat dies in einer Art und Weise, die Ranjit davon abhielt, einen Kommentar dazu abzugeben.
Nachdem er die Kinder ein bisschen besser kennengelernt hatte, fand er sie ganz nett. Manchmal waren sie lieb, manchmal so unverschämt, dass ihre Frechheit schon einen Unterhaltungswert hatte, und die ganze Zeit über beschäftigten sie sich mit der verzwickten und schwierigen, aber vergnüglichen Aufgabe, groß zu werden. Und dann merkte er, dass er sie richtig in sein Herz geschlossen hatte. Seine Sympathie ging sogar so weit, dass er beim Abschied von der Familie Kanakaratnam anbot, mit ihnen an seinem nächsten freien Tag einen Ausflug an den Strand zu unternehmen.
Bis dahin waren es noch volle achtundvierzig Stunden. Ranjit verbrachte einen beträchtlichen Teil dieser Zeit damit, darüber nachzusinnen, ob er dieser Verantwortung überhaupt gewachsen war. Was sollte er zum Beispiel tun, wenn eines der Kinder einmal - nun ja, nötig musste?
Als dann der Ernstfall eintrat, nahm Tiffany ihm ungefragt diese Sorge ab. Als Rosie Pipi machen musste, lotste Tiffany sie in die sanfte Brandung, und die gesamte Bucht von Bengalen diente als sanitäre Einrichtung. Und als Harold mal ein großes Geschäft verrichten musste, nahm Tiffany ihn an die Hand und bugsierte ihn zu einem Toilettenhäuschen der Bauarbeiter, ohne Ranjit erst mit dem Problem zu belästigen.
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