Das Leuchten der Insel
Vaters am Tag des Unfalls hallten in ihrem Kopf nach: »Wie konntest du sie loslassen?« Susannahs gesamtes Leben war nichts als der ständige Versuch, jenen einen Augenblick wiedergutzumachen, jenen einen Moment, als sie dreizehn Jahre alt gewesen war. Und jetzt versagte sie erneut.
»Nein!«, brüllte sie durch die leere Kabine. »Du bist zu schnell gefahren! Du hättest die Heckwelle nicht so schnell schneiden dürfen!«
Wie konntest du sie loslassen?
»Nein!«
Susannah stand auf und durchwühlte erneut alle Fächer, Schubladen und die winzige Toilette auf der Suche nach einem Hammer, einem Beil oder irgendetwas, mit dem sie sich würde gewaltsam befreien können. Sie wollte die verschlossene Tür sprengen, diese beengende Kabine, ihr ganzes vorsichtiges, schuldbelastetes Leben. Sie dachte an den dämlichen Vergleich von Frauen in der Mitte ihres Lebens mit noch ihren in Kokons eingesponnenen Schmetterlingen, die darauf warteten, mit frischem Selbstvertrauen und neuer Kreativität in die zweite Hälfte ihres Lebens aufzubrechen. Nur fühlte sie sich nicht wie ein Schmetterling und auch nicht sonderlich selbstsicher oder kreativ. »Ich bin eine stocksaure Frau«, dachte sie, »und ich hasse diesen verfluchten Kokon.«
Sie sah sich erneut um und ihr blick fiel auf einen metallenen Feuerlöscher, der über der Kochplatte an der Wand hing. Sie stand auf, packte ihn, hob ihn mit beiden Armen über den Kopf und schmetterte ihn mit aller Kraft gegen die Tür. Sie hörte ein Knacken, und zu ihrer Überraschung zerbarst die Tür in der Mitte. Bevor sie sich’s versah, war Susannah frei.
27. Kapitel
Susannah 2011
S ie ging durch den Regen zum Pick-up und war einerseits stolz auf ihre Stärke und andererseits besorgt darüber, wie Barfuß wohl auf die Tatsache reagieren würde, dass sie die Tür seines geliebten Boots zerstört hatte.
Als sie mit dem Wagen in die Zufahrt einbog, sah sie Katie am Tor stehen. Katie kam herbeigerannt, während Susannah das Fenster herunterkurbelte, um mit ihr reden zu können.
»Wo bist du gewesen?«, rief Katie. »Mein Gott! Ich habe versucht, dich anzurufen, und du bist fast eine Stunde lang weg gewesen. Quinn ist wirklich krank. Er steht nicht von der Couch auf, und ich glaube, er hat Fieber. Er hat sich auch übergeben. Er fühlt sich wirklich richtig heiß an.«
»Konntest du zur Klinik durchkommen?«
»Nein. Die Internet- und Handyverbindungen funktionieren wegen des Regens nicht.«
Kurz darauf kniete Susannah auf dem Boden neben der Couch, auf der Quinn zusammengerollt lag.
»Mein Bauch tut sehr weh«, sagte er. Sein Gesicht war rot und erhitzt, sein blondes Haar hing feucht über seiner Stirn.
»Ist es wie vorher?«, fragte Susannah. »Wie die anderen Male, als du Bauchschmerzen hattest? Hast du es mit der Wärmflasche versucht?«
Quinn begann zu weinen: »Ja, aber es hat nicht geholfen. Es tut wirklich ganz doll weh.«
Susannah maß seine Temperatur. Er hatte fast vierzig Grad Fieber. Sie nahm die medizinische Enzyklopädie und blätterte darin. Quinn zeigte alle Symptome einer Appendizitis, einer Blinddarmentzündung.
Susannahs Gedanken begannen zu kreisen. Die Pavalaks waren fort, Barfuß ebenfalls. Sie musste Quinn sofort nach Friday Harbor in die Klinik bringen. Jim war mit seinem Boot nach Anacortes gefahren. Sie konnte das Boot von Barfuß nehmen, die EmmaJeanne , bei der ihr Barfuß gezeigt hatte, wie man sie fuhr. Bei diesem stürmischen Wetter auf einem Boot – es war genau das, wovor sie sich am meisten fürchtete. Sie wandte sich an Katie.
»Wir müssen ihn nach Friday Harbor bringen.«
»Ich kann kein Boot fahren«, sagte Katie. »Ich meine, ich bin ein paarmal mit Hood draußen gewesen, aber ich habe nicht aufgepasst. Ich …«
»Ich werde das Boot steuern«, erklärte Susannah. »Ich kann das. Barfuß hat mir gezeigt, wie es geht. Weißt du, wo seine Schlüssel für das andere Boot sind, die EmmaJeanne ?«
»Er lässt sie immer auf dem Boot«, sagte Katie. »Das hier ist Sounder. Jeder macht das so.«
»Gut. Dann lass uns aufbrechen.«
Susannah zog Quinn eine Regenjacke an, legte ihm eine Decke um und führte ihn zum Pick-up. Katie half und war bereit, alles zu tun, worum sie gebeten wurde, aber ihre Augen waren angstgeweitet und sie wirkte furchtsam. Quinn rollte sich auf dem Vordersitz zusammen, den Kopf auf Susannahs Schenkel. Katie sprang auf die Ladefläche. Susannah fuhr den Schotterweg langsam hinunter, aber Quinn schrie bei jeder
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