Das Leuchten der Insel
Füßen kann nicht laufen.«
»Du weißt, was ich meine.«
»Mom …«
»Gut. Aber Quinn …«
» Mom. Ich muss weiter. Ich ruf’ dich morgen an.«
Susannah schob das Handy in ihre Tasche zurück. Fast fünftausend Kilometer und dreißig Jahre Distanz, und sie entkam noch immer nicht. Aber wovor versuchte sie zu entkommen? Vor einer Kindheit, die, realistisch betrachtet, nicht wesentlich schlimmer gewesen war als die anderer Menschen, zumindest vor Janies Tod. Ihr Vater hatte herumgebrüllt, und ihre Mutter Ausflüchte und Entschuldigungen gefunden.
Ja, die Wutanfälle ihres Vaters – irrational, verletzend und durch die Wodka-Martinis, die er jeden Abend trank, kräftig angeheizt – hatten Susannah in Angst und Schrecken versetzt. Nie hatte sie im Haus Schuhe getragen, damit ihn ihre Schritte nicht erzürnten. Sie vergrub sich in Büchern, die sie oben in ihrem Schrank beim Licht einer Taschenlampe las. Zuweilen wurde sie noch immer von der quälenden Unsicherheit jener Jahre verfolgt – von ihrem innigen Wunsch, im Hintergrund zu verschwinden und zu einem Schatten, einem Ast, einem in den Boden gedrückten Stein zu werden; zu etwas, was man nie wahrnahm.
Aber sie hatte überlebt. Und sie hatte Matt gefunden. Sie erinnerte sich noch daran, wie sie als Achtzehn- oder Neunzehnjährige, als es ihr zum ersten Mal in den Sinn gekommen war, ihn zu heiraten, gedacht hatte: »Matt würde mich nie anbrüllen. Meine Kinder würden mit Matt als Vater völlig anders aufwachsen.«
Und so war es dann auch: Matt war ein freundlicher und liebevoller Vater. Er verstand zwar nicht recht, warum Katie so schwierig war, aber er hielt sie in den ersten Jahren während der schlaflosen Nächte in den Armen und wiegte sie hin und her. Später coachte er ihr Fußballteam, brachte ihr Korbleger bei und saß mit ihr am Tisch im Esszimmer, sein ergrauendes neben ihrem glänzenden, dunklen Haar, und erklärte ihr mathematische Gleichungen. Er brüllte tatsächlich nicht.
Und dennoch fühlte sich Susannah unbehaglich. Sie blickte sich in dem Haus um, das für die nächsten neun Monate ihr Heim sein würde – eine Zufluchtsstätte, oder, wenn man Katie war, ein Gefängnis. Sie beschützte ihre Tochter vor einer Bedrohung, die sie nicht benennen konnte, vor all den unsichtbaren Dingen, die ihr Schaden zufügen konnten oder die ihr, noch schlimmer, das Gefühl geben mochten, nicht schützenswert zu sein.
7. Kapitel
Betty 1952
V ier Monate nach ihrer Hochzeit hatte Betty eine Fehlgeburt. Nichts Ungewöhnliches, wie der Arzt sagte, nichts, worüber sie sich den Kopf zerbrechen müsse, denn sie sei jung und gesund und so rasch schwanger geworden. Betty akzeptierte die Versicherungen des Arztes und versuchte, ihm zu glauben. »Eines Tages werden wir ein Haus voller Kinder haben«, sagte sie zu Bill. Es werde ähnlich sein wie das, in dem sie selbst aufgewachsen war: ein großes Haus, angefüllt mit Rollschuhen und Baseballs und einem Klavier, und neben dem Eingang würden lauter Fahrräder lehnen.
Bill hatte auf ihre Fehlgeburt liebevoll reagiert und sich um ihre Gesundheit gesorgt. Aber er trauerte nicht in gleicher Weise wie sie um das Baby. Er wollte Kinder, natürlich wollte er Kinder – sie hatten vor ihrer Hochzeit darüber gesprochen. Aber sie war furchtbar schnell schwanger geworden, obwohl sie sich gar nicht darum bemüht hatten.
Ein paar Monate nach der Fehlgeburt lag sie zusammengerollt neben ihm im Bett. Ihr Kopf lag auf seiner Brust, einen Arm hatte sie über seinen flachen Bauch gelegt. Sie hatten sich an diesem Nachmittag bereits zwei Mal geliebt. Er stopfte sich ein zweites Kissen in den Nacken, damit sein Kopf höher lag, und zündete sich eine Zigarette an.
»Vielleicht können wir jetzt, wo kein Baby kommt und du dich besser fühlst, wieder über Alaska nachdenken«, sagte er.
»Alaska?« Betty zog sich von ihm zurück, setzte sich auf und drehte sich zu ihm hin, um ihn anzusehen. »Alaska? Ich dachte, wir wären zu dem Schluss gekommen, dass das keinen Sinn macht.«
» Du bist zu dem Schluss gekommen«, entgegnete Bill und zog an seiner Zigarette. »Ich finde, dass es sehr viel Sinn macht. Lass es uns jetzt tun, bevor wir Kinder haben. Und wenn es uns gefällt, werden wir unsere Kinder dort bekommen.«
Plötzlich ergriff Betty tief im Inneren ihres Körpers eine eisige Kälte. Ja, sie hatten darüber gesprochen. Die Krabbenfischerei war – selbst Bill räumte das inzwischen ein – zu gefährlich für einen
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