Das Leuchten der Insel
ein paar Tage verbracht, aber er sah ihr, während er darüber sprach, nicht in die Augen. Sie wusste es auch durch den Tand, den sie in seinen Taschen oder auf der Kommode fand – ein silbernes Feuerzeug oder eine Pu ¯ pu ¯ keakette aus Hawaii. Sie spürte es sogar durch die Art, wie er sie berührte: Seine Berührungen waren manchmal anders als das letzte Mal, als er zu Hause gewesen war.
Aber sie hatte dem zugestimmt; es war eine Übereinkunft, die sie vorgeschlagen hatte. Bill hielt sich an ihre Vereinbarung, indem er sich nicht mit anderen Frauen traf, während er auf Sounder war. In diesem Punkt vertraute sie ihm. Er liebte sie auf seine Weise. Er liebte ihren Sohn. Er schrieb Jimmy seit dessen drittem Lebensjahr fast jede Woche aus Alaska. Wenn er im Sommer zu Hause war, brachte er ihm bei, wie man Poker spielt, Lachsen auflauert oder einen Stein über die glatte Oberfläche eines Sees hüpfen lässt.
Natürlich hatte Betty auch finstere, quälende Stunden; Nächte, in denen sie unruhig im Cottage auf und ab lief, nachdem Jimmy eingeschlafen war, und eine Sehnsucht spürte, die sie nicht benennen konnte. Es war nicht einfach ein sexuelles Verlangen, obwohl das bei ihr stark ausgeprägt war, noch war es schlicht jene altvertraute Einsamkeit, die sie ebenfalls oft empfand. Es war ein unstillbares Sehnen danach, dass sich jemand nach ihr sehnte. Zumindest blieb es unstillbar, solange sie mit Bill verheiratet war.
Jim war kaum zu bändigen. Mit achtzehn Monaten fand er heraus, wie er die Hintertür öffnen konnte: Er legte beide Hände auf den schmiedeeisernen Entriegelungshebel und drückte ihn mit aller Kraft nach unten. Als ihm das zum ersten Mal gelang, bemerkte Betty ein paar Minuten lang nicht, dass er rausgelaufen war. Schließlich sah sie die offenstehende Tür, raste zum Ufer an der Bucht und suchte es nach ihm ab, bis sie den Lärm aus dem Hühnerstall hörte, wo er jauchzend den Hühnern hinterherjagte.
Mit drei fand er den Revolver, den Bill in einer Schachtel hinten im Schlafzimmerschrank aufbewahrte. Jim nahm ihn und feuerte einen Schuss auf die Matratze ab. Betty war in der Küche und hörte den Schuss. Als sie seinen Namen schrie, verkroch sich Jim unter das Bett. Sie lief ins Schlafzimmer und sah den rauchenden Revolver auf dem Boden liegen, aber nichts von ihrem kleinen Jungen. Sie sah sich nicht um und schaute auch nicht unter das Bett, weil sie sich zu sehr davor fürchtete, was sie dort wahrscheinlich entdecken würde. Stattdessen setzte sie sich voller Gram auf den Boden, und ihr Schluchzen lockte Jim aus seinem Versteck hervor.
Mit vier wäre er fast ertrunken, als Claires sechsjähriger Sohn Stephen am Strand ein Möwenei fand und es so weit er konnte aufs Meer hinausschleuderte, wo es sofort im Wasser versank. Jim eilte in die Wellen, um die ungeschlüpfte Möwe zu retten. Betty, die neben Claire im Sand saß, blickte gerade noch rechtzeitig hoch, um sein braunes Haar unter einer Welle verschwinden zu sehen. Sie sprang auf, rannte in die Brandung und sah sein leuchtend gelbes T-Shirt durch das wirbelnde Wasser scheinen – sie hatte es glücklicherweise am Morgen von der Wäscheleine genommen und ihm angezogen. Sie griff in die Wellen und zog ihren Sohn hoch, der keuchte und spuckte und um das verlorene Ei weinte.
Sie fürchtete die See mehr als jede andere auf der Insel lauernde Gefahr. Leicht konnte eine Welle Jim mitreißen, wenn er am Ufer spielte, oder ein Fels konnte wegbrechen, wenn er den Pfad an der Uferklippe entlangging, oder er konnte auf dem glitschigen Anlegesteg ausrutschen. Daher war sie fest entschlossen, einen guten Schwimmer aus ihm zu machen. In dem Sommer, in dem Jim fünf wurde, beschloss sie, Lem Jacobsen, der im College an Schwimmmeisterschaften teilgenommen hatte, zu bitten, ihrem Sohn das Schwimmen beizubringen.
Lem war einunddreißig, eigenwillig und exzentrisch und in der Gegend um Sounder für sein enzyklopädisches Wissen über Kräuter, seine Stimmungsschwankungen und seine rohe Kraft bekannt. Er verbrachte viel Zeit allein in dem Bauernhaus, das er oben auf Crane’s Point besaß. Wenn er nicht beruflich auf Reisen war, stand er in der Küche und packte Kräuter für Tees und Umschläge aus den Erträgen seines Gartens ab, oder er lief auf der Insel herum und absolvierte ein beachtliches Krafttraining. Betty sah ihn oft auf dem Platz neben der Post mit abgespreizten Armen flach auf dem Boden liegen und Dutzende »Kreuzliegestütze«, wie er sie
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