Das Leuchten der Orchideen: Roman (German Edition)
Potts. Ihr Vater war in der Kolonialverwaltung tätig, glaube ich«, antwortete Shane.
»Lebt sie noch?«
»Klar doch«, sagte Peter, »sie ist putzmunter. Eine ganz reizende alte Dame.«
»Kann ich sie anrufen?« Begeistert sprang Julie auf.
»He, es ist mitten in der Nacht«, lachte Peter.
»Dann erzählt mir alles, was ihr von dieser Frau wisst«, bat Julie.
»Na ja, wie gesagt, sie waren Spielkameraden im Lager. Allerdings war sie etwa zehn Jahre älter als Dad«, begann Shane. »Nach dem Krieg hielten sie Kontakt, auch als sie in Großbritannien lebte.«
»Hat Dad sie nicht manchmal in den Schulferien besucht?«, unterbrach Peter seinen Bruder.
»Ja, ich glaube schon«, bestätigte Shane. »Später, als sie in Schottland lebte, kam sie im Winter immer nach Malaysia und wohnte in einem Ferienhaus auf Pulau Langkawi, das Dad gehörte. Wir haben es vor ein paar Jahren verkauft, aber sie verbrachte ihre Urlaube weiterhin auf der Insel. Dann hat sie sich in Penang eine Wohnung gekauft, auf dem Penang Hill. Erst neulich haben wir mit ihr im Eastern & Oriental Hotel zu Mittag gegessen. Irgendwo müssten wir auch ihre Telefonnummer haben. Sie ist wirklich nett, auch wenn sie schon über achtzig ist.«
»Ich würde mich gern mal mit ihr unterhalten. Wenn sie mit Onkel Philip befreundet war, erinnert sie sich bestimmt auch an Großtante Bette. Ach, ist das großartig!«, freute sich Julie.
»Ja, vielleicht können wir da morgen was arrangieren«, meinte Shane. »Ähm, könnten wir jetzt den Ton wieder laut machen und das Spiel weiter ansehen?«
Julie lachte. »Ich weiß, das bedeutet euch nicht so viel wie mir, also lasst euch bitte nicht abhalten und schaut weiter Fußball. Ich lese inzwischen noch mal das Notizbuch meines Großvaters. Und vielen Dank, dass ihr es mir gezeigt habt.«
Am nächsten Tag rief Julie ihre Mutter an.
»Mein Schatz, schön, deine Stimme zu hören«, sagte Caroline. »Alles in Ordnung? Oder ist etwas passiert?«
»Ich habe etwas ganz Verblüffendes über Bette herausgefunden – und über deinen Bruder. Es ist echt erstaunlich. Du hast deinem Bruder nicht so nahegestanden, oder? Ich meine, hat dir Onkel Philip jemals etwas vom Krieg erzählt?«
»Nein, gar nichts. Warum sollte er?« Caroline hielt inne und dachte nach. »Wie du weißt, war ich zehn Jahre jünger als Philip, und er wurde auf ein Internat in Großbritannien geschickt. Dann gingen Mutter und ich nach Australien zurück und ließen uns hier nieder. Eigentlich habe ich Philip nie wirklich gekannt. Und über den Krieg haben wir eigentlich nie geredet. Aber was gab es da schon groß zu erzählen?«
»Und Bette? Wo war sie während des Krieges?«
»Auch hier, nehme ich an. Warum fragst du? Was hast du herausgefunden? Jetzt bin ich aber wirklich gespannt. Und geht’s dir gut? Sind die Jungs nett?«
»Ganz großartig. Ich fühle mich hier wunderbar. Wart nur ab, bis ich dir von den Orang-Utans und den Iban erzähle. Das war richtig abenteuerlich. Aber deshalb rufe ich nicht an. Ich habe gerade ein Notizbuch mit den Erinnerungen von Großvater Roland gelesen, und was er über das Schicksal unserer Familie während des Krieges in Malaya schreibt, unterscheidet sich erheblich von dem, was wir immer gedacht haben.«
»Herrje, was willst du denn damit sagen? Ich weiß nicht so recht, was wir über den Krieg in Malaya gedacht haben, weil meine Mutter nie darüber gesprochen hat. Wenn sie von Malaya erzählt hat, dann immer nur über die guten alten Zeiten, bevor die Japaner kamen.«
»Hmm, ich kann mir denken, warum.« Julie atmete tief durch. »Großtante Bette und Philip sind nicht mit dem Schiff aus Singapur geflohen. Ich weiß nicht, was passiert ist, aber Großmutter hat es aufs Schiff geschafft und Bette und Philip nicht.«
»Was sagst du da? Wie sind sie dann von Malaya weggekommen?«
»Gar nicht, Mama. Sie wurden in ein Kriegsgefangenenlager in Sarawak gebracht.«
Caroline verschlug es hörbar den Atem. »Was? Das ist jetzt kein Witz, oder? Mutter hat also hier in Brisbane gelebt, während ihre Schwester mit Philip in einem Lager interniert waren? Wie schrecklich für die beiden! Und wie fürchterlich für Mutter!«
»Allerdings. Das war wohl kaum beabsichtigt, aber warum hat Großmutter nie davon gesprochen?«
»Ich weiß es nicht. Möglicherweise aus schlechtem Gewissen, weil sie glaubte, sie hätte ihren Sohn im Stich gelassen. Das würde immerhin erklären, warum sie nur über die Vorkriegszeit reden
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