Das Leuchten der purpurnen Berge (German Edition)
die anderen Männer, Frauen und Kinder? Was war damals geschehen?
Und wie viel hatte Paul gewusst? Ihre Unruhe wurde größer, das Heulen des
Windes bedrohlicher, und die Dunkelheit und Enge im Haus ängstigten sie. Emma
kauerte sich unter der Decke und kämpfte gegen Albträume an. Morgen, versuchte
sie sich einzureden, morgen, wenn die Sonne aufgeht, sieht alles wieder anders
aus.
Der Sturm tobte die
ganze Nacht. Immer wieder wurde Emma durch dumpfe Schläge aus dem Schlaf
gerissen. Gewaltige Sturmwellen rollten gegen die Hausmauern, die Druckwellen
schmerzten in ihren Ohren, es dröhnte und heulte, und jeden Augenblick drohten
die Wände und Fenster zu explodieren. Der Sand drang durch alle Ritzen, überzog
jeden Gegenstand, sammelte sich in den Ecken und unter den Fenstern. Zwischen
ihren Zähnen knirschten die Sandkörner, und ihre Augen brannten. Die Hütten
draußen mussten längst weggefegt sein!
Bis zum Anbruch der
Dämmerung hielt sie es aus, dann riss sie die Haustür auf und stürzte in den
tobenden Sturm hinaus. Wie Nadeln bohrten sich die Sandkörner in ihre Haut. Sie
kniff die Augen zusammen, hielt die Hand schützend vor ihr Gesicht, zog den
Kragen des Kleides bis zur Nase hoch und kämpfte gegen die tosenden Böen an.
„Amboora!“, rief sie wieder, doch ihre Stimme ging im Brausen
des Sturms kläglich unter. Als sie den Hütten näher kam, konnte sie durch den
Staubschleier erkennen, wie der
Wind das Reisig aus den Dächern herausriss, wie die Wände aus Zweigen
einstürzten und über das Land gefegt wurden.
Wenige Meter vor der
ersten Hütte blieb sie stehen. Nein, hier waren keine Menschen mehr. Waren sie
rechtzeitig geflohen und hatten sich woanders in Sicherheit gebracht? Sie
wankte im Sturm auf die Hütte zu, in der Mani gewohnt hatte, und sah gerade
noch, wie die letzte Wand aus Reisig und Lehm weggerissen wurde.
Sie stemmte sich gegen
den Wind. War das nicht eine Bewegung da hinten? Ein flackerndes Licht? Die scharfen
Sandkristalle drangen in ihre Nase, sie knirschten zwischen ihren Zähnen, sie
brannten in ihren Augen, und sie stachen in ihr Gesicht. Der Sturm warf sich
ihr entgegen, stieß sie zurück, zerrte sie zur Seite, brauste in ihren Ohren,
doch sie ließ sich nicht aufhalten, stapfte weiter zwischen den herumwirbelnden
Zweigen hindurch auf dieses Leuchten zu. Da war jemand, ganz sicher. Das Licht
musste in der Nähe des Buschs sein, wo sie die kranke Frau gefunden und
beerdigt hatten. Sie blieb kurz stehen und rang nach Luft. Ihre schmerzenden
Augen tränten. Wo, wo war das Licht? Eben war es doch noch da gewesen ... Sie
suchte in den gewaltigen Schatten, zu denen die Felsbrocken am Fuß der Berge
geworden waren, diesen leuchtenden Punkt. Eine Feder von Wirinun vielleicht
oder einer der weißen Hunde oder ein Feuer? Schritt für Schritt kämpfte sie
sich voran, rang dem Sturm jeden Schritt ab, sie stolperte, torkelte, fing sich
wieder, ging weiter, stolperte wieder, stürzte zu Boden, keuchte vor
Anstrengung, rappelte sich auf und suchte weiter. Sie müsste dem Licht doch
schon viel näher gekommen sein! Aber es war noch immer genauso klein, genauso
weit weg. Weiter!, trieb sie sich selbst an, weiter, nicht stehen bleiben, da
ist jemand!
Irgendwann war ihr, als
habe der Sturm auch ihre Gedanken zerfetzt. Sie hörte auf zu denken. Sie ging
einfach nur weiter auf dieses Leuchten zu, das den Berg immer höher
hinaufzuklettern schien. Ein Feuer? Ein brennender Busch? Einen Augenblick lang
stellte sie sich die Frage, warum sie nicht zurück zum Haus ging, warum sie
unbedingt diesen Punkt erreichen wollte? Sie fand keine Antwort. Wenn nur das
Heulen nicht wäre! Dieses schreckliche Heulen! Wie das Jammern von geschundenen
Menschen! Sie stürzte, lag mit dem Gesicht auf der trockenen Erde und presste
die Hände auf die Ohren. Und dann sah sie ihn: ihren Vater! Das Leuchten kam
von seiner Laterne, die er in der Hand hielt. Sie stützte sich auf die Hände,
versuchte aufzustehen, sackte wieder nach vorn, Zweige peitschten ihr ins
Gesicht, sie schmeckte Blut, warmes Blut, es war stockfinster, nur dieses
Licht, dieses ferne Leuchten, sie musste weiter, ihr Vater rief sie ...
„Papa!“, schrie sie gegen das Tosen an, „Papa, geh nicht wieder weg, ich komme,
ich komme!“
Es wird auch Zeit, dass du kommst, hörte sie ihn sagen, wo bist du nur gewesen, all die Jahre? Und
warum hast du deine Mutter allein gelassen?
Aber, Papa ...
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