Das Leuchten der purpurnen Berge (German Edition)
Medizinmann Jalyuri. „Er hat
einen starken Gegner“, sagte er schließlich mit seiner krächzenden Stimme.
Jalyuri blickte zu Boden. Seine Kehle war trocken wie die Erde unter seinen
nackten Füßen. „Die alte Schuld, Jalyuri, du weißt es ...“, sagte der
Medizinmann drohend. Nur Alte und ganz kleine Kinder sterben ohne Grund. Hinter
jedem anderen Tod steht die Schuld, hallte es in Jalyuris Ohren. Als er den
Kopf hob, begegnete er dem Blick seiner Frau, die ihren Sohn in den Armen hielt
und an ihre Brust drückte, wie früher, als er noch ein Baby war. Mit großen,
sorgenvollen Augen sah sie Jalyuri an. Sie ahnte, was ihm bevorstand.
9
Auf See
Paul und Emma saßen wie
all die vergangenen Tage an einem Tisch im Speisesaal und nahmen Kaffee und
Brot mit einem dünnen Butteraufstrich zu sich. Paul war in die Lektüre eines
Theologiebuchs vertieft, während Emma rasch ihren Kaffee trank, ein paar Bissen aß und dann an Deck
ging. Sie wollte endlich ihrer Mutter und Vera einen Brief schreiben. Welch ein
wundervoller Anblick bot sich ihr! Der Hafen von Gibraltar war voller Leben.
Händler hatten Stände aufgebaut und verkauften Gemüse und Fisch. Am liebsten
wäre sie jetzt hinuntergegangen, hätte die Gerüche eingesogen und wäre durch
die engen Straßen geschlendert. Doch die Abfahrt stand kurz bevor, und sie
hatten keine Erlaubnis, an Land zu gehen.
„Guten Morgen, Frau
Schott!“ Emma drehte sich um. Hilde Friedrich, gekleidet in ein graues
Halbärmelkleid mit weißen Knöpfen, lächelte sie an. Warum nur wählte sie immer
diese Farben, die gar keine waren? Als wollte sie gar nicht da sein. „Wie geht
es Ihrem Mann?“, erkundigte sich Emma. „Der Arme hat die ganze Nacht nicht
geschlafen! Er wird hoffentlich nicht doch noch seekrank werden!“ „Bitte
richten Sie ihm meine besten Wünsche aus.“ „Das werde ich.“ Hilde Friedrich
lächelte wieder und ging dann weiter. Emma blieb noch an der Reling stehen, bis
die Britannia ablegte. Taue wurden eingeholt, die Besatzung verrichtete
ihre eingeübte Arbeit. Ein paar wenige Menschen an Land winkten. Sie wurden
immer kleiner, und Emma dachte daran, wie sie Hamburg verlassen hatten und ihre
Mutter und Vera in der Ferne verschwunden waren. Gibraltar, dachte sie,
vielleicht war es das erste und letzte Mal, dass ich dich gesehen habe? Als
sich das Schiff so weit entfernt hatte, dass sie selbst die Burg nicht mehr
ausmachen konnte, suchte sie sich einen windgeschützten Platz an einem der
kleinen Tische und holte ihr Schreibzeug aus der Tasche.
Liebe Mama,
nun sind wir schon
seit Tagen auf See. Es ist alles neu und aufregend. Wie seltsam: Wir gehen an
Bord eines Schiffes, und schon ändert sich das ganze Leben! Vielleicht solltest
du auch einfach an Bord eines Schiffes gehen ... Mit Paul verstehe ich mich
gut. Meistens wenigstens. Wir müssen uns ja auch erst aneinander gewöhnen - Wie
lange habt ihr, du und Papa, euch gekannt, bevor ihr geheiratet habt? Hast du
mir nicht mal erzählt, es hat fast zwei Jahre gedauert, bis er dich endlich
gefragt hat? Ich lese viel und versuche Englisch und auch bereits ein wenig die
Eingeborenen-Sprache zu lernen. Es ist eine schrecklich schwierige Sprache. Man
hat einen Wortstamm, und daran werden alle möglichen Endungen gehängt, oder es
werden Vorsilben vorangestellt, um etwas auszudrücken. Ein einziges Wort
beinhaltet dann, wer mit wem spricht, wer nicht dabei ist, wie viele Zuhörer es
gibt, und so weiter. Man kann nicht glauben, dass ein so primitives Volk eine
solch ausgeklügelte Sprache hat!
Man wird dort mit den Eingeborenen
Geduld brauchen, sagt Paul. Wir müssen ihnen und den Kindern lesen und
schreiben und christliche Lieder beibringen. Das ist aber nur möglich, wenn wir
ihre Sprache sprechen! Liebe Mama, du glaubst ja gar nicht, was das für eine
große und gewaltige Aufgabe ist. Und mir ist sie aufgetragen worden! Ich denke oft an Papa. Er wäre stolz auf
mich.
Was gibt es Neues von Bertolt? Warum
kann er nicht auch eine Aufgabe finden, die FRIEDLICH ist? Warum kann er andere
Menschen nicht denken lassen, was sie wollen? Warum sollen alle so denken wie
er? Ach, ich will dich nicht noch mehr aufregen.
Ach Mama, ich wünschte, du könntest
mich begleiten und hättest wieder Freude!
Ich vermisse dich.
Deine Dich
liebende Emma.
Sie faltete den Bogen
Papier, steckte ihn in einen Umschlag und adressierte ihn. Sie würde ihn später
einem Steward
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