Das Leuchten der schottischen Wälder
Herren aus Frustration, Langeweile und Verdrossenheit Hilfe bei ihr suchten. Alle drei waren depressiv und zum Teil seit Wochen im Sanatorium. Und allen verordnete sie den Fußmarsch.
Eine Ausnahme bildete die Dame. Sie war ein Mobbing-Opfer und bereit zu kämpfen. Dass sie ihren Kampf bis in Lenas Praxis ausbreitete, war der Ärztin nicht besonders angenehm. Auch sie war eine Patientin des Broklenbeg-Sanatoriums und bereits sehr wütend, weil sie so lange warten musste. „Können diese Männer ihren Seelenmüll nicht woanders auskippen?“, fragte sie zornig, bevor sie sich überhaupt vorstellte. „Ich bin Jane Shore.“
Lena reichte ihr die Hand. „Kommen Sie herein, und nehmen Sie Platz. Was kann ich für Sie tun?“
„Halten Sie sich diese Typen vom Leib. Diese Manager und Chefs und Direktoren mit ihren Supergehältern und ihrer Langeweile kommen doch nur, um ein neues Gesicht zu sehen und dann im Heim damit zu prahlen. Ich sag’s Ihnen, morgen platzt Ihre Praxis aus allen Nähten.“
Lena lächelte beschwichtigend. „Eigentlich wollte ich nur wissen, womit ich Ihnen helfen kann.“
„Ich will meinen Frust loswerden und meine Wut.“
„Ich fürchte, da sind Sie bei mir nicht richtig, Mrs. Shore.“
„Klar bin ich hier richtig. Von Frau zu Frau kann man über alles reden, und das will ich. Nur das.“ Und dann legte sie los: „Seit 35 Jahren bin ich in der Firma, und nun sind neue Chefs gekommen und haben ihre eigenen Angestellten mitgebracht. Und plötzlich taugt meine Arbeit nicht mehr. Aber, ich sag’s Ihnen, mich werden die nicht los. Ich kenne meine Rechte. Aber wo bin ich gelandet? Im Sanatorium. Der Firmenarzt hat mich einfach krankgeschrieben, wissen Sie? Überarbeitung, Überforderung, Über…, ach ich weiß nicht mehr, was er mir noch alles untergeschoben hat. Und nun sitze ich seit Wochen hier, und irgendwann heißt es dann, die Shore ist untragbar, die kann ihre Pflichten nicht mehr wahrnehmen, also raus mit ihr.“
Wütend lief sie im Sprechzimmer auf und ab. „Aber das lasse ich mir nicht gefallen. Deshalb bin ich hier. Ich brauche einen Arzt, der mir bescheinigt, dass ich absolut gesund und arbeitsfähig bin. Im Sanatorium stecken die doch alle unter einer Decke.“
Lena war entsetzt. Sie war Landärztin, sie wollte körperlich kranke Menschen heilen, Verletzten helfen, Wunden versorgen, Fürsorge verschenken und Mut machen. Und nun füllten diese Menschen mit ihren seelischen Problemen und persönlichen Unzufriedenheiten ihr Wartezimmer. Wenn sich das herumspricht, kommt bestimmt keine Bäuerin mehr, dachte sie enttäuscht.
Dennoch, sie war Ärztin und ihre Berufsauffassung gebot ihr Hilfe zu leisten, wo immer diese gebraucht wurde. Sie stand auf und führte Jane Shore zu einem Stuhl. „Setzen Sie sich bitte. Ich kann nicht mit Ihnen sprechen, wenn Sie ständig hin und her laufen.“ Dann fragte sie ihre Patientin nach der Dauer des Aufenthaltes im Sanatorium, nach Behandlungsmethoden, nach Medikamenten, nach früheren Krankheiten, nach Problemen in ihrem Leben und nach Zukunftsplänen, um sich ein Bild zu machen.
Als Jane Shore die Praxis etwas beruhigter verließ, war es Mittag. Erschöpft setzte sich Lena hinter ihren Computer und gab die Stichworte ein, die sie sich gemacht hatte. Dann verschloss sie die Haustür und ging in ihre Wohnung. Der Kaffee war schal und bitter geworden.
„Na, Dr. Mackingtosh“, empfing sie eine strahlende Amy Carver, „hab ich’s nicht gesagt, jetzt geht’s los. Und lauter feine Leute, die da gekommen sind.“
„Ja, ja, Amy, und nicht einer brauchte wirklich meine Hilfe.“
„Aber es ist doch ein Anfang.“
„Wenn dieser Anfang sich herumspricht, bleiben die Bauern weg.“
„Es wird sich alles arrangieren, Dr. Mackingtosh.“ Amy ging in die Küche. „Das Mittagessen ist fertig“, rief sie über die Schulter zurück und hantierte geräuschvoll mit den Töpfen. Lena legte den Arztkittel ab und wusch sich die Hände. Dann setzte sie sich an den liebevoll gedeckten Tisch und genoss den Duft, der aus der Küche herüberwehte.
Begeistert von ihrem eigenen Können trug Amy die Platte herein. Sie nahm an, dass die Ärztin viel Wert auf gesunde Kost legte und hatte überbackenes Gemüse mit Forellenfilets und vielen Kräutern aus ihrem eigenen Garten zubereitet. Mit der Ernte hier auf der Farm musste sie noch eine Weile warten. Schließlich musste aus dieser Wildnis erst einmal ein Gemüsegarten werden. Aber ihr eigener Garten
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