Das Leuchten der schottischen Wälder
Mittagessen im Auto.“
„Der ist jetzt nicht mehr im Wald. Die Mittagsrast ist längst vorbei, die Herde ist wieder unterwegs.“
Lena zögerte und ging ein paar Schritte zurück. „Wo finde ich ihn denn jetzt?“
„Er wird in westliche Richtung weitergezogen sein. Fahren Sie den Juniperwalk runter, vielleicht sehen Sie ihn unterwegs.“
Kapitel 29
Lena sah die Herde schon von weitem. Da sie aber nicht quer über die Heide fahren konnte, stellte sie den Wagen im Schutz einiger Wacholderbüsche ab, nahm den Picknickkorb und lief zu Fuß hinter dem Schäfer her. Die Hunde sahen sie zuerst. Als sie die junge Frau verbellten, drehte sich Marc Winter um, rief die Hunde zurück und winkte. „Ich hatte mein Mittagsessen schon abgeschrieben“, rief er ihr fröhlich zu.
„Ich bin aufgehalten worden. Dabei habe ich selbst einen Bärenhunger. Können wir hier irgendwo essen?“
„Drüben bei den Birken gibt es eine windgeschützte Mulde, da setzen wir uns hin.“ Sie gingen zusammen über die Heide. „Pass auf, Doktor, dass Du nicht in ein Kaninchenloch trittst und dir den Fuß verstauchst. Hier gibt es riesige Karnickelkolonien.“
In der Vertiefung angekommen, breitete er sein Regencape aus. „Bitte, setz dich, es ist zwar kein feines englisches Plaid, aber man sitzt ganz gut darauf. Die stachelige Heide dringt nicht durch.“
Lena setzte sich und packte den Korb aus. Amy hatte Brathähnchen und Gurken, frisches Brot und Mayonnaise, hartgekochte Eier, ein Schälchen Senfsoße und frische Aprikosen eingepackt; dazu Teller, Besteck, Servietten, Gläser und eine Thermosflasche mit Eistee. Der Schäfer sah ihr zu. „Das sieht ja großartig aus. Und die Sachen haben sogar die lange Wartezeit überstanden. Wer oder was hat dich denn aufgehalten, wenn man fragen darf?“
„Du darfst fragen, Schäfer, aber ich werde dir nicht alles erzählen.“
„Ein Arztgeheimnis?“
„Zum Teil, aber zuerst war der Wildhüter daran schuld, der versuchte nämlich mit Geschrei und Flüchen zwei Ziegen zu melken.“
„Wo gibt es denn so etwas?“
„Im Garten von Colleen. Ich war auf dem Weg zu dir und hörte das herzerweichende Gemecker. Das hat mich neugierig gemacht, und ich bin ausgestiegen.“
„Aha. Und dann?“
„Dann fängt mein Geheimnis an.“
„Hat Colleen ihr Baby bekommen?“
Verblüfft sah Lena den Mann an. „Wusstest du davon?“
Der Schäfer starrte gedankenverloren eine Weile über die Heide. „Ja, ich wusste es.“ Dann fragte er leise: „Ist alles gut gegangen?“
Und als Lena nickte, erklärte er: „Ich bin der Vater.“
Überrascht sah Lena ihn an. Der alte Schäfer und Colleen, das kann doch nicht wahr sein, dachte sie, und keiner hat etwas gewusst, sonst hätte sich die Nachricht von dem Verhältnis wie ein Lauffeuer in den Dörfern verbreitet. Sie sah ihn beruhigend an. „Es ist alles gut gegangen, Colleen sitzt schon wieder in der Sonne, hat das Baby in ein Tragetuch gehüllt und genießt ihr neues Leben als Mutter.“
„Ich werde sie heute Abend, wenn die Herde im Pferch ist und keine Leute mehr unterwegs sind, besuchen.“
Lena studierte das Gesicht des Schäfers. Eigentlich sieht er recht gut aus mit seinen 60 Jahren, dachte sie, und Männer in seinem Alter sind durchaus noch in der Lage, Kinder zu zeugen. Aber Colleen – kein Mensch hatte gewusst, dass sie in anderen Umständen war. Die Frauen im Dorf hätten das doch merken müssen.
Der Schäfer beobachtete die Ärztin. „Du wunderst dich?“
„Ich bewundere Colleen, der man anscheinend nichts angesehen hat, obwohl sie hier zu Hause ist und ein Babybauch sich nicht neun Monate lang verbergen lässt.“
„Sie trägt immer sehr weite, lockere Kleider. ‚Ich liebe meine Zelte’, hat sie mir einmal gesagt, ‚man kann Gut und Böse darunter verstecken.’ Als sie kam, damals aus Irland, waren es helle, lustige Kleider mit bunten Bordüren und vielen Volants. Aber langsam wurden die Farben dumpfer und dunkler. Colleen wurde älter, und sie hat das sogar noch betont, weil sie als Heilerin ernst genommen werden wollte. In den letzten Jahren trug sie nur noch graue oder schwarze Kleider, und mit den hellen Farben legte sie auch ihre Jugend und ihre Fröhlichkeit ab.“
„Wie lange kennst du sie denn schon?“
„Von Anfang an. Ich habe ihr zu dem Cottage verholfen, ich kümmere mich um sie.“
„Und keiner weiß das?“
„Nein, wozu? Wir sind seit zwanzig Jahren gute Freunde mit einem platonischen Verhältnis, den
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