Das Leuchten
»Ranger Grimes wird ihn noch in dieser Stunde auf das Festland bringen, und dann wird er uns nie wieder unter die Augen kommen.«
Ich warf einen flüchtigen Blick auf Gemma, die so mitgenommen aussah, wie ich mich fühlte. Was um alles in der Welt hatte sie den anderen erzählt?
»Was ist denn das?«, fragte Mum erschrocken und berührte meinen Arm.
Von der Armbeuge bis hinauf zum Oberarm zog sich eine seltsame, sich verästelnde Linie. Es sah fast so aus, als hätte jemand meine Adern mit purpurroter Tinte nachgezeichnet.
»Eine Lichtenberg-Figur«, erklärte der Doc. »Grimes sagt, Shade hat das auch.«
Als er mit dem Finger über das gezackte Muster strich, zuckte ich zusammen, denn die Stelle schmerzte.
»Man bekommt es, wenn man vom Blitz getroffen wurde«, fuhr er fort. »Aber auch jeder andere elektrische Schlag kann so ein Mal hervorrufen.« Sein Blick blieb an Zoe hängen.
Sie zappelte und wollte etwas sagen, aber ich kam ihr zuvor.
»Das war wirklich schlau von dir, kleine Krabbe«, krächzte ich, »die Elektroschockpistole in die Pfütze zu werfen. Wirklich schlau.«
Gemma hörte auf, den Wagen hin und her zu schieben, und runzelte die Stirn.
»Ja«, antwortete Zoe und kämpfte gegen die Tränen an, »das war schlau.«
»Du hast doch behauptet, du könntest dich an nichts mehr erinnern«, wunderte sich der Doc.
»Sie hatte Angst«, log ich, ohne meine Schwester aus den Augen zu lassen. »Sie hat den Elektroschocker vom Boden aufgehoben. Wahrscheinlich wusste sie selbst nicht, was sie da tat.« Zoe nickte, ihre Lippen waren schmal wie ein Strich. »Ich habe ihr gesagt, sie soll die Waffe in die Pfütze werfen.«
Der Doc baute sich vor Gemma auf. »Hast du gesehen, was passiert ist?«
»Was ist los, Doc?«, fragte Dad.
»In achtundvierzig Stunden bin ich für immer hier weg und dann kann dir niemand mehr helfen.« Der Doc sah mich durchdringend an. »Wenn mit dir etwas nicht in Ordnung ist, solltest du es mir jetzt sagen.«
Seine Worte machten mich wütend. »Mit mir ist alles in Ordnung.« Wie sollte ich gerade ihm trauen, ihm, der uns hatte weismachen wollen, dass Seablite ein Gefängnis war.
»Gib Ty ein bisschen Zeit, dann werden wir schon sehen, wie es ihm geht«, schlug Dad vor.
»Er ist noch ein Kind!«, sagte der Doc verärgert. »Er weiß nicht, was das Beste für ihn ist. Hast du denn gar keinen Einfluss auf ihn?«
»Nur wenig«, entgegnete Dad trocken.
»Es ist unverantwortlich, ihn nicht zu untersuchen. Schlichtweg unverantwortlich.« Entrüstet stolzierte der Doc aus dem Zimmer.
»Jetzt, da Shade festgenommen wurde«, sagte Mum rasch, um die peinliche Stille zu beenden, »sind die meisten davon überzeugt, dass auch der Rest der Bande von hier verschwinden wird. Vielleicht interessiert es dich, dass wir überlegen, nun doch nicht nach oben zu ziehen.« Sie lächelte und reichte mir einen Stapel zusammengelegter Kleidung. »Vielleicht bekommen wir sogar eine Belohnung vom Staat, weil wir ihn gefangen haben.«
Ich blickte zu Dad, der mich anlächelte. Das genügte, um mich die Schmerzen einen Moment lang vergessen zu lassen.
Als die anderen aus dem Zimmer gegangen waren, zog ich mir eine Hose über. Unter dem Krankenhaushemd kam das gezackte Mal zum Vorschein. Ich sank aufs Bett. Mir wurde schlagartig bewusst, dass Shade und ich nun schon zwei Dinge gemeinsam hatten. Nach allem, was ich gesehen hatte, war klar: Auch Shade hatte eine Dunkle Gabe.
Jubel und Applaus brandeten auf, als ich die Tür zum Speisesaal öffnete. Jibby, Raj und die Peaveys erhoben ihre Gläser. »Auf Ty!«
Jibby drückte mir einen Becher in die Hand. »Wir feiern die Gefangennahme von Shade.«
»Wie spät ist es?«
»Mitternacht«, antwortete Sharon und strahlte mich an.
Gemma drängte sich dicht an mich und flüsterte: »Wir müssen reden.« Sie führte mich zu einem leeren Tisch.
Das war eine gute Gelegenheit, unsere Aussagen aufeinander abzustimmen.
»Du musst ihnen sagen, dass es Dunkle Gaben wirklich gibt«, sagte sie, als wir uns auf die Tischkante gesetzt hatten.
»Wie bitte? Niemals!«
»Die Leute müssen wissen, dass Shade sich tarnen kann, wann und wie er will.«
»Warum denn? Er kann doch nicht aus dem Gefängnis ausbrechen, indem er seine Hautfarbe ändert.«
»Du bist ein Vorbild für Zoe und Hewitt«, schimpfte sie los. »Wahrscheinlich auch für andere Kinder. Sie achten darauf, was du tust, weil du älter bist. Und was bringst du ihnen bei? Dass sie sich schämen sollen,
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