Das Licht der Flüsse
begeistert bei der Sache, und man hätte
es nicht für möglich gehalten, dass solch fügsame Marschierer je müde werden.
Mein größtes Entzücken in Compiègne galt dem Rathaus. Ich war in das Rathaus regelrecht vernarrt. Es ist ein Denkmal gotischer
Unbestimmtheit, mit Türmchen und Wasserspeier, von einem halben Dutzend architektonischer Launen verziert. Einige der Nischen
sind vergoldet und bemalt, auf einer großen rechteckigen Tafel in der Mitte, in schwarzem Relief vor vergoldetem Hintergrund,
reitet Ludwig XII. auf einem Pferd im Passgang, mit einer Hand an der Hüfte und in den Nacken geworfenem Kopf. Jede Linie
dieses Porträts zeugt von königlicher Arroganz. Der Fuß im Steigbügel ragt dreist aus dem Rahmen, der Blick ist hart und stolz.
Sogar das Pferd scheint genussvoll über die in den Staub geworfenen Leibeigenen zu traben und den Trompetenton in den Nüstern
zu haben. So reitet der gute König Ludwig XII., Vater seines Volkes, in alle Ewigkeit an der Fassade des Rathauses.
Über dem Kopf des Königs, im hohen Mittelturm, sieht man das Zifferblatt einer Uhr und noch höher drei mechanischeFiguren, jede mit einem Hammer in der Hand, deren Aufgabe es ist, den Bürgern von Compiègne die ganzen, halben und viertel
Stunden zu schlagen. Die Figur in der Mitte hat einen vergoldeten Brustpanzer, die anderen beiden tragen vergoldete Kniehosen,
und alle drei haben elegante weichkrempige Hüte wie Kavaliere. Wenn die Viertelstunde naht, wenden sie einander die Köpfe
zu und betrachten sich wissend, und dann hört man –
kling
– die drei Hämmer auf drei kleine Glocken schlagen. Die Stunde folgt tief und sonor aus dem Turminneren, und die vergoldeten
Herren ruhen sich von ihrer Arbeit zufrieden aus.
Ich hatte großes Vergnügen an ihren Manövern und achtete sorgsam darauf, so wenige Vorstellungen wie möglich zu versäumen;
ich merkte, dass selbst der Kapitän der
Cigarette
, während er vorgab, meine Begeisterung zu verachten, ein mehr oder weniger begeisterter Anhänger war. Es ist doch ziemlich
absurd, solch ein Spielzeug den Winterstürmen auf einem Dach auszusetzen. In einer Glasvitrine, vor einer Nürnberger Uhr,
wäre es besser aufgehoben. Scheint es nicht vor allem nachts, wenn die Kinder schlafen und die Erwachsenen unter den Decken
schnarchen, unangebracht, dass diese Lebkuchenmännchen den Sternen und dem rollenden Mond zuwinken und zuklingeln? Mögen die
Wasserspeier auch noch so vorbildlich ihre affenartigen Köpfe verdrehen, mag der Monarch auch noch so breitbeinig auf seinem
Schlachtross sitzen wie ein Zenturio in einem alten deutschen Druck von der
Via Dolorosa
, die Spielfiguren aber sollten in einer mit Baumwolle gepolsterten Schachtel aufbewahrt werden, bis die Sonne aufgeht und
die Kinder wieder unterwegs sind, um sich an ihnen zu erfreuen.
Im Postamt von Compiègne wartete ein großes Paket Briefe auf uns; die Beamten waren ausnahmsweise so freundlich, sie uns auf
unser Bitten hin auszuhändigen.
In gewisser Weise könnte man sagen, dass unsere Reise mit diesem Beutel voller Briefe in Compiègne endete. Der Bann war gebrochen.
Von diesem Moment an waren wir zum Teil wieder zu Hause.
Niemand sollte auf einer Reise Korrespondenz führen. Es ist schlimm genug, dass man schreiben muss, aber Briefe zu erhalten
ist der Tod jeglichen Urlaubsgefühls.
»Aus meinem Land und mir selbst zieh ich aus.« Ich will eine Zeitlang in neue Bedingungen eintauchen wie in ein anderes Element.
Für den Augenblick habe ich mit meinen Freunden oder Liebschaften nichts zu tun; als ich aufbrach, habe ich mein Herz zu Hause
in einer Schublade zurückgelassen oder es mit meinem Koffer vorausgeschickt, damit es am Ziel auf mich wartet. Wenn meine
Reise beendet ist, werde ich eure freundlichen Briefe gewiss mit der Aufmerksamkeit lesen, die sie verdienen. Ich habe all
das Geld ausgegeben und das Paddel geschwungen, nur um fern der Heimat zu sein; ihr aber haltet mich mit euren ständigen Nachrichten
zu Hause fest. Ihr zieht an der Leine, und ich fühle mich wie ein am anderen Ende der Schnur festgebundener Vogel. Ihr verfolgt
mich durch ganz Europa mit den kleinen Ärgernissen, denen ich entfliehen wollte. Aus dem Krieg des Lebens gibt es keine Entlassung,
dessen bin ich mir wohl bewusst, aber darf man denn nicht einmal eine Woche Urlaub genießen?
An dem Tag, als wir losfahren sollten, standen wir um sechs Uhr auf. Sie hatten so wenig Notiz von uns
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