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Das Licht des Nordens

Das Licht des Nordens

Titel: Das Licht des Nordens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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was mir aber nicht gelingt. Er sah mir nie offen ins Gesicht.
    Ich frage mich, wie Grace sich davon überzeugte. daß er sie liebte. Und ob sie sich das bis zum Schluß vormachte. Männer rücken selten von sich aus damit heraus. Minnie behauptet, man müsse bei ihnen nach bestimmten Anzeichen Ausschau halten. Waschen sie sich, bevor sie dich abholen? Lassen sie dich allein auf den Wagen klettern, oder steigen sie ab und helfen dir? Kaufen sie dir Süßigkeiten, ohne daß du mit dem Zaunpfahl winken mußt?
    Royal wäscht sich. Und er zieht auch ein frisches Hemd an. Und wenn er sagt, daß er um sieben kommt. dann ist er auch um sieben da. Er tut auch andere Dinge. Ich lege mich auf mein Kissen zurück und zähle mir alle insgeheim auf, immer und immer wieder, wie eine Litanei, aber es nützt nichts. Mama hat gesagt, ich würde es wissen. Und so ist es auch. Ich schätze, ich hab es schon die ganze Zeit gewußt.
    Â»Arme, traurige, dumme Grace«, flüstere ich in die Dunkelheit. »Arme, traurige, dumme Matt.«

Thren • odie
    Â»Mattie, hast du das Päckchen gekriegt, das für dich gekommen ist?« fragte Mrs. Morrison. Sie stand hinter der Rezeption und sortierte die Post. Es war drei Uhr. Das Mittagessen war gerade vorbei, und der Speisesaal war bis zum Abendessen um sechs geschlossen. Wir durften jedoch nie untätig sein, und ich war gerade mit einem Stapel frisch gebügelter Laken auf dem Weg nach oben, um den Wäscheschrank im zweiten Stock aufzufüllen.
    Â»Nein, Ma’am. Was für ein Päckchen?«
    Â»Von der Lehrerin. Sie hat es vor etwa einer Stunde abgegeben. Ich hab dich gesucht, aber nicht gefunden. Ada hat es für mich nach oben gebracht.«
    Ich dankte ihr, lief so schnell ich konnte zum Dachboden hinauf und legte unterwegs rasch die Laken ab. Ich war furchtbar neugierig, denn noch nie hatte mir jemand ein Päckchen geschickt. Als ich oben ankam, sah ich, daß es sich um ein großes, in braunes Papier gewickeltes und mit einer Schnur verschlossenes Paket handelte. Unter der Schnur steckte ein Umschlag aus Hotelpapier. Als erstes öffnete ich das Paket, weil ich wissen wollte, was darin war. Es waren drei Bücher: »Schwester Carrie« von Theodore Dreiser, »Der Dschungel« von Upton Sinclair und »Threnodie«, ein Gedichtband von Emily Baxter. Miss Wilcox hatte also ein weiteres Buch geschrieben, obwohl ihr Mann es ihr verboten hatte! Ich war so aufgeregt. daß ich den kleinen Band an mich drückte. Ich wußte nicht, was
Threnodie
bedeutete, also zog ich mein Lexikon unter dem Bett hervor und sah nach. Es bedeutete Klagegesang, Totenlied. Ich mußte lächeln, weil ich mich freute, daß ich nicht die einzige war, die zu morbiden und entmutigenden Themen neigte. Als nächstes öffnete ich den Umschlag, faltete das Blatt Papier darin auf und hielt die Luft an, als ein Fünf-DollarSchein herausflatterte. Ich hob ihn auf. Aber es gab auch noch einen Brief.
    Liebe Mattie,
    ich dachte, diese Bücher könnten Dir gefallen. (Achte darauf, den Dreiser zu verstecken.) Ich hoffe vor allem, daß Du an dem Gedichtband Spaß hast, weil ich Dir ein Andenken an mich hinterlassen möchte. Morgen werde ich Eagle Bay verlassen und nächstes Jahr nicht mehr unterrichten. Eigentlich wollte ich Dir das persönlich sagen, aber Mrs. Morrison konnte Dich leider nicht finden. Ich lege Dir auch die Adresse meiner Schwester Annabelle bei. Ich habe ihr alles über Dich erzählt, und sie freut sich schon darauf, Dich bei sich aufzunehmen. Die beiliegende Summe wird Dir helfen, zu ihr zu kommen
…
    Der Brief war noch nicht zu Ende, aber ich las nicht weiter. »Sie können nicht gehen!« sagte ich laut. »Das können Sie nicht!« Dann rannte ich hinaus und war im Nu unten in der Küche. Weaver saß am Tisch und aß Eiscreme. Die Schläge der Trapper waren ihm immer noch anzusehen. Sein Auge war noch nicht ganz geheilt. und seine Lippen noch immer empfindlich. Die Köchin und Mr. Sperry hatten die Herdplatte abgenommen und sahen mit gerunzelter Stirn darauf hinab.
    Â»Kann ich bitte den Einspänner nehmen, Mr. Sperry?« fragte ich keuchend. »Ich muß nach Inlet. Dringend.«
    Â»Hast du den Verstand verloren? In ein paar Stunden gibt’s Abendessen. Außerdem wirst du allein nicht mit Demon fertig«, antwortete die Köchin.
    Â»Ich bin rechtzeitig wieder

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