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Das Licht des Nordens

Das Licht des Nordens

Titel: Das Licht des Nordens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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den Geschichten und wehrte ab, doch ich sah den Stolz in seinen Augen, als Onkel Fifty uns erzählte, daß es keinen Geschickteren im Umgang mit einem Boot gegeben hätte, keinen Flinkeren und Furchtloseren. Er sagte, mein Pa habe den sichersten Stand gehabt, den er je bei einem Flößer gesehen habe, und daß er an den Stämmen geklebt habe wie Rinde. Er sagte, er habe einmal gesehen, wie er auf einem Stamm ein Tänzchen gewagt, ein Rad geschlagen und einen Handstand gemacht habe.
    Die Geschichten meines Onkels waren natürlich alle faustdicke Lügen. Das wußten wir, aber es war uns egal. Wir mochten einfach seine Art zu erzählen. Mein Onkel hat die wundervolle Stimme eines Manns aus den North Woods. Man kann die trockene Kälte eines Januarmorgens darin hören und das Knistern und Knacken von qualmendem Holz. Sein Lachen klingt wie ein Bach unter Eis, tief und rauschend. Sein voller Name lautet Francois Pierre, aber Pa erklärte uns, seine Initiale stünden in Wahrheit für Fünfzig Prozent, weil man nur die Hälfte von allem glauben könne, was er sagt.
    Pa ist vier Jahre älter als Fifty. Pa ist vierzig und mein Onkel sechsunddreißig. Sie haben die gleichen zerfurchten Gesichter, die gleichen blauen Augen und das gleiche schwarze Haar, aber damit ist es mit der Ähnlichkeit zwischen den beiden auch schon vorbei. Onkel Fifty lächelt immer, während mein Vater immer grimmig dreinblickt. Und Fifty trinkt mehr als er sollte. Pa trinkt nur gelegentlich. Fifty hört sich wie ein Franzose an, der er auch ist, mein Vater hingegen so, als wäre er in New York geboren und aufgewachsen und hätte nicht mehr Französisches an sich als Barney, der Hund.
    Einmal fragte ich meine Mutter, warum Pa nie französisch spreche, und sie antwortete: »Weil die Narben zu tief sind.« Ich dachte, sie müsse diejenigen auf seinem Rücken meinen, die ihm sein Stiefvater mit einem Gürtel beigebracht hat. Pas richtiger Vater starb, als er sechs war. Seine Mutter hatte noch sieben weitere Kinder und heiratete den ersten Mann, der sie darum bat. weil sie sie durchbringen mußte. Pa redete nie über seinen Stiefvater und seine Mutter, aber Onkel Fifty tat es. Er erzählte uns, daß dieser Mann sie und ihre Mutter wegen jeder Kleinigkeit geprügelt habe: Weil das Essen zu kalt oder zu heiß war. Weil der Hund im Haus war, wenn er hätte draußen sein sollen oder umgekehrt. Er sprach kein Französisch und erlaubte nicht, daß es in seinem Haus gesprochen wurde, weil er Angst hatte, seine Stiefkinder würden hinter seinem Rücken über ihn reden. Das vergaß mein Vater einmal, und daher hat er seine Narben. Onkel Fifty sagte, ihr Stiefvater habe das falsche Ende des Gürtels benutzt, und die Schnalle habe die Haut aufgerissen. Ich bemühe mich sehr, mich an diese Narben zu erinnern, wenn Pa grob ist. Ich versuche, mich zu erinnern. daß harte Schläge Spuren hinterlassen.
    Pa lief schon mit zwölf von zu Hause fort und fand Arbeit als Hilfskraft in einem Holzfällerlager. Er arbeitete sich Richtung Süden bis nach New York durch und ging nie mehr nach Quebec zurück. Seine Mutter starb vor ein paar Jahren, und seine Geschwister verstreuten sich in alle Himmelsrichtungen. Onkel Fifty war der einzige, den er je sah.
    Unser Onkel unterhielt uns stundenlang mit seinen Geschichten. Aber gegen elf wurde Beth müde, Lou begann zu gähnen, und Pa sagte uns, daß nun Zeit fürs Bett sei. Als wir aufstanden und Gute Nacht sagten, warf Beth einen letzten, sehnsüchtigen Blick auf den Beutel unseres Onkels, was Fifty bemerkte und lächelte. Er öffnete ihn und sagte: »Isch bin selbst sähr müde. Isch denke, isch nehm jetzt mein Nachthemd raus, aber … was is’ denn das? Wo kommen bloß all die Geschenke her? Isch kann misch nicht erinnern, daß ich ein Geschenk gekauft habe!«
    Beth hüpfte auf und nieder. Abby kreischte. Sogar Lou war aufgeregt. Ich nicht minder. Onkel Fifty schenkte uns immer die schönsten Sachen. Pa sagte. er treibe die fliegenden Händler zum Wahnsinn, lasse sie alles auspacken, wähle dieses und jenes aus, dann überlege er sich’s wieder und beginne von vorn. Von ihm bekam man nie langweiliges Zeug wie Taschentücher oder Minzbonbons. Er suchte immer etwas Besonderes aus. An diesem Abend begann er bei Beth und ging dann zu den Älteren über, wobei er immer so

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