Das Licht des Orakels
Meisterpriester stürzen, doch sie wurden von Wachen gepackt.
Sie kämpften mit aller Kraft, kamen aber nicht frei.
Renchald nickte Bolivar zu, der neben Selid stand. In einer einzigen Bewegung zückte der Soldat den scharfen Dolch und griff nach ihrem Hinterkopf. Einen Moment lang schien die Klinge für alle Zeit stillzustehen, eine silberne Schneide der Ewigkeit, die darauf wartete, dass alle hinsahen. Dann schnitt Bolivar, schnell und mit grauenvoller Eleganz, Selids Kehle durch. Behutsam ließ er sie auf die Steine vor dem Kamin gleiten.
»Nein!«, flüsterte Lance, als das Blut hervorquoll.
Wieder versuchte er, sich aus dem Griff der Soldaten, die ihn hielten, loszureißen.
Selid lächelte ihn an, ihn allein, als ihre Augen brachen. Lance drehte den Kopf zum Meisterpriester. »Ihr habt die tapferste und liebste Frau von allen getötet.«
Wieder nickte Renchald Bolivar zu. Lance sah den Dolch auf seine eigene Kehle zukommen, aber er zuckte vor der Klinge nicht zurück. Mit einem eigenartig freudigen Gesichtsausdruck streckte er die Hand nach Selid aus und starb, ohne einen Laut von sich zu geben.
Kiran war wie gelähmt. Er sah alles wie durch einen wässrigen Nebel. Die Soldaten, die ihn bewachten, stießen ihn rücklings auf den Boden und hielten ihn dort fest.
Ein Gesicht mit kornblumenblauen Augen und gehässigem Lächeln beugte sich über ihn. Eine lange schwarze Feder mit grauem Rand wurde vor ihm geschwenkt und Aasgeruch stieg ihm in die Nase. Cleas Lippen formten Worte, die er nicht verstehen konnte, so sehr dröhnte es ihm in den Ohren. Er versuchte zu entkommen, doch alle Kraft hatte ihn verlassen. Seine Lunge mühte sich ab, aber sie schien keine Luft aufnehmen zu können.
Endlich ließ sie die Feder in das Etui gleiten. Kiran konnte wieder atmen. Er hörte sie sagen: »Du wirst dem Meisterpriester des Orakels gehorchen.«
Schwärze legte sich über ihn und brachte willkommenes Vergessen.
Ilona stand auf der Schwelle des Schreinerhauses und griff nach dem Türpfosten, um sich Halt zu geben. Die Anstrengung, ihr Entsetzen und ihren Abscheu zu verbergen, hatte sie vollkommen erschöpft. Sie zitterte und hatte große Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Trotz aller dunkler Verbindungen zwischen Renchald und dem Herrn des Todes war sie nicht darauf gefasst gewesen, dass Selid und ihr Mann ermordet werden würden.
Götter des Himmels und der Erde, worauf habe ich mich eingelassen?
Jede Verfluchung, die Ilona in der Vergangenheit erlebt hatte, war mit der größten Feierlichkeit ausgesprochen worden und mit dem gebührenden Bedauern darüber, dass eine Verfluchung überhaupt notwendig war.
Aber diesmal nicht. Clea war viel zu begeistert gewesen, ihre Macht zu nutzen und Kiran mit einem Fluch zu belegen. Sie hatte sich regelrecht hämisch darüber gefreut.
Hatte er doch Recht damit gehabt sich zu weigern, sich mit einem Geist wie dem ihrem zu verbinden? Plötzlich empfand Ilona ein starkes Schuldgefühl, weil sie der Verfluchung des vom Schwan erwählten Helfers zugestimmt hatte. Sie blickte zu Lord Erringtons Tochter, die sie nun zur Königin bringen musste.
Ellerth, vergib mir!
Als Kiran aus der Bewusstlosigkeit erwachte, hörte er das Geräusch sich drehender Räder und spürte die Bewegungen eines Wagens. Er lauschte angestrengt, konnte aber nicht heraushören, wer ihn bewachte. Er hielt die Augen geschlossen und tat so, als würde er schlafen, denn er wurde vermutlich beobachtet. Wenn er sich nicht anmerken ließ, dass er wach war, hätte er vielleicht Zeit, kostbare Zeit nachzudenken.
Er hatte wieder Selid und Lance vor Augen. Wieder sah er sie sterben.
Sie könnten in Sicherheit sein, wenn sie ohne mich losgegangen wären! Seine Verzweiflung wuchs noch, als er sich an Cleas Fluch erinnerte: Du wirst dem Meisterpriester des Orakels gehorchen.
Was würde er tun, wenn Renchald ihm befahl, alles zu erzählen, was er wusste? Würde er seine Freunde und alles, was er für richtig hielt, verraten? Ich weiß zu viel: Dass Brock und Dawn sich verschlüsselte Botschaften schreiben und über die Gilgamelltruppe und Selids Botschaft.
Er schwor sich, gegen den Fluch zu kämpfen, doch allein der Gedanke daran, Widerstand zu leisten, bereitete ihm heftige Übelkeit. Noch schlimmer, sein Geist schien wie zersplittert, seine Gedanken wirkten wie müde Vögel, die planlos herumflatterten.
Kiran zwang sich, sich zu konzentrieren, und stellte sich vor, Bryn wäre bei ihm. Schon der Gedanke an
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