Das Licht ferner Tage
sollte.
Mae wusste besser als irgendjemand sonst, dass man einen Menschen nicht körperlich beschädigen musste, um ihn zu verletzen.
Sie war keine Augenzeugin des grauenhaften Verbrechen gewesen, dem ihre Familie zum Opfer gefallen war; sie hatte sich nicht einmal in der Stadt aufgehalten, als es passierte und hatte nicht einmal einen Blutfleck gesehen. Nun waren alle tot, und sie war diejenige, die diese Last für den Rest ihres Lebens würde tragen müssen.
Um Hiram zu treffen, damit er so litt, wie sie litt, musste sie die Menschen verletzen, die Hiram am nächsten standen.
Sie brauchte nicht lang im persönlichen Umfeld von Hiram zu suchen, des öffentlichsten Menschen der Welt, um diese Person zu identifizieren. Es war Bobby Patterson, sein Lieblingssohn.
Natürlich musste sie alles so arrangieren, dass Hiram wusste, er selbst wäre dafür verantwortlich – genauso wie Mae. Das wären erlesene Qualen.
In den schwarzen Abgründen ihrer Seele nahm der Plan langsam Gestalt an.
Sie ging vorsichtig zu Werke, denn sie war nicht erpicht darauf, ihrem Mann und ihrer Tochter in die Todeszelle nachzufolgen. Sie wusste, dass nach der Tat die Behörden ihr Leben mithilfe der WurmCam durchleuchten und nach Beweisen suchen würden, dass sie das Verbrechen geplant hatte. Das Motiv würde dabei auch eine Rolle spielen.
Das durfte sie auf keinen Fall vergessen. Sie bewegte sich gleichsam auf einer Bühne, wo jede einzelne Handlung von geschulten Beobachtern aus der Zukunft registriert, aufgezeichnet und analysiert wurde. Sie agierte quasi vor laufender Kamera.
Es war unmöglich, ihre Handlungen zu verbergen. Also musste sie dafür sorgen, dass es wie ein Verbrechen aus Leidenschaft aussah.
Sie durfte sich auch nicht anmerken lassen, dass sie sich der Überwachung aus der Zukunft bewusst war. Mit einer Schauspielnummer würde sie nicht durchkommen. Also ging sie weiterhin ihren intimen Verrichtungen nach, furzte, bohrte in der Nase und masturbierte, um sich in diesem gläsernen Zeitalter nicht durch falsche Scham verdächtig zu machen.
Natürlich musste sie Informationen gewinnen. Selbst das vermochte sie unauffällig zu tun. Hiram und Bobby waren schließlich zwei der berühmtesten Menschen auf Erden. Sie brauchte sich gar nicht als Voyeur zu exponieren, sondern musste nur die einsame Witwe mimen, die sich mit TV-Serien über die Reichen und Schönen tröstete.
Nach einiger Zeit fand sie einen Weg, an die beiden heranzukommen.
Dazu war es notwendig, eine neue Karriere einzuschlagen. Das war aber nicht ungewöhnlich, war dies doch ein Zeitalter der Paranoia und des Misstrauens. Der Wach- und Personenschutz war ein blühender Wirtschaftszweig und bot den Leuten attraktive Karrieremöglichkeiten, ohne dass man sich für diesen Berufswunsch rechtfertigen musste. Sie trieb Sport, stärkte Körper und Geist. Sie arbeitete bei verschiedenen Sicherheitsdiensten und bewachte Leute und deren Eigentum, die in keinerlei Verbindung zu Hiram und seinem Imperium standen.
Dabei hielt sie nichts schriftlich fest und legte jedes Wort auf die Goldwaage. Während sie ihr Leben langsam in andere Bahnen lenkte, achtete sie darauf, dass jeder Schritt selbstverständlich wirkte und dass ihm eine innere Logik zugrunde lag. Als ob sie mehr oder weniger zufällig in Hirams und Bobbys Richtung getrieben wäre.
In der Zwischenzeit verfolgte sie immer wieder Bobbys Biografie von seiner behüteten Kindheit und Jugend bis zum Eintritt ins Mannesalter. Er war Hirams Ungeheuer, aber er war auch eine schöne Kreatur, und bald hatte sie das Gefühl, ihn zu kennen.
Sie würde ihn vernichten. Während sie sich gegen ihren Willen mit Bobby beschäftigte, stahl er sich in ihr einsames Herz.
3
FLÜCHTLINGE
Bobby und Kate patrouillierten auf der Suche nach Mary auf der Oxford Street.
Nachdem Mary die beiden vor drei Jahren bei einer Flüchtlings- Gruppeabgeliefert hatte, war sie wenig später aus ihrem Leben verschwunden. Das war nicht ungewöhnlich. Das Netzwerk von Flüchtlingen, das sich grobmaschig über die ganze Welt spannte, war nach dem Vorbild der Zellen der alten Terroristengruppen organisiert.
Bobby hatte sich Sorgen um seine Halbschwester gemacht, nachdem sie für längere Zeit kein Lebenszeichen mehr gegeben hatte. Schließlich spürte er sie in London auf. Und heute, so hatte man ihm zugesichert, würde er sie wiedersehen.
Der Himmel über London zeigte sich als graue Dunstglocke mit schwarzen Regenwolken. Es war ein
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